Rezension

Antigone: Eine Heldin der Moral?

Premierenkritik. In ihrer neuen Inszenierung von Sophokles‘ Antigone am Münchner Residenztheater belässt es Regisseurin Mateja Koležnik nicht bei der traditionellen Darstellung des Tragödienstoffs, sondern nimmt einen Perspektivwechsel vor.

Antigone (Vassilissa Reznikoff, Bildmitte) wird für die Bestattung ihres Bruders zur Rechenschaft gezogen. Foto: Sandra Then.

Von Samuel Kopp.

Mit seiner Antigone, uraufgeführt um das Jahr 440 v. Chr. in Athen, ist Sophokles, dem größten unter den Tragödiendichtern, ein Werk gelungen, das niemals zu den alten Büchern gestellt werden wird, da es sich auf jede erdenkliche politische und gesellschaftliche Konstellation beziehen lässt: Da beerdigt eine junge Frau ihren im Kampf getöteten Bruder, sie tut, was ihre Religion und der Anstand ihr gebieten. Zugleich aber widersetzt sie sich auf diese Weise einem Beschluss ihres Onkels Kreon, des Königs von Theben, der an der Leiche seines früheren Feindes ein Exempel statuieren und sie unbestattet verrotten lassen will, und nimmt hierfür selbst ihre eigene Hinrichtung in Kauf. Es ist kein Wunder, dass der zugrundeliegende Konflikt zwischen staatlichem Gesetz und religiös begründeten Moralvorstellungen bis heute fasziniert, so auch den slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, einen der einflussreicheren Intellektuellen unserer Zeit.

Žižek hatte 2015 unter dem Titel Die drei Leben der Antigone eine eigene Bearbeitung der antiken Tragödienstoffs veröffentlicht, in welcher er mit alternativen Ausgängen der Handlung experimentierte. Diese hat nun die ebenfalls slowenische Theaterregisseurin Mateja Koležnik zur Vorlage für ihre neue Inszenierung der Antigone genommen, die seit Donnerstag im Residenztheater mit großem Ensembleaufgebot gezeigt wird. Koležnik stellt in zwei Akten gewissermaßen die Antigone des Sophokles jener von Žižek gegenüber, wobei der erste Akt der ‚klassischen‘ Version gehört, welcher allerdings ein moderner Rahmen gegeben wurde. 

Man befindet sich in den unterirdischen Schutzräumen einer monarchischen Regierung, die soeben den militärischen Angriff auf ihre Stadt abwehren konnte, dabei aber ihren Herrscher verloren hat. Der neue Despot ist nun Kreon, der von Oliver Stokowski als unsympathischer Hardliner mit Ledermantel und nach hinten gegelten Haaren dargestellt wird. Hinter einer verschlossenen Tür hält er nun mit seinen politischen Berater*innen Krisensitzung. Zu hören bekommt man davon nur einzelne Wortfetzen, doch das Wesentliche wird ohnehin meist heimlich auf dem Flur besprochen. Nicht recht zu der zeitgenössischen Kulisse passen mag die stark archaisierende, an Hölderlins Übersetzung erinnernde Wiedergabe des Sophokles-Textes, der man, sobald sie hastig oder erregt vorgetragen wird, nur noch schwer folgen kann.

König Kreon (Oliver Stokowski, hier mit Linda Blümchen als Ismene) hat durch seine Unnachgiebigkeit seine eigene Familie zerstört. Foto: Sandra Then.

Ideologische Debatte um Antigone

Im zweiten Akt wird ein Perspektivwechsel vorgenommen: Das Publikum darf nun an den Beratungen im Inneren des Sitzungssaals teilhaben, die ihm zuvor vorenthalten waren. Dafür muss man allerdings in Kauf nehmen, die Handlung noch einmal von vorne zu sehen, wovon vor allem zu Beginn kein wirklicher Mehrwert ausgeht. Wesentlich neu ist dann aber die žižeksche, explizit kritische Sicht auf die Figur der Antigone, die im ersten, ‚sophokleischen‘ Akt noch als das moralische Idealbild frommen und selbstlosen Handelns erschienen war, als das sie seit Sophokles berühmt ist, gemäß dem Motto: „Nicht zu hassen, zu lieben bin ich auf der Welt.“

Über die vermeintlich edle Gesinnung der Antigone gibt es nun in der Ratsversammlung mehr als nur zwei Meinungen. Was einst bei Sophokles der einmütige und weise Chor des Ältestenrates war, ist bei Koležnik ein selbstgerechter Haufen streitlustiger Politiker*innen. Und selbst jene, die sich zumindest einig sind, dass Antigone das Richtige getan hat, verfallen in politisch-ideologische Diskussionen darüber, ob sie es aus den richtigen Motiven getan habe und ob die ganze Debatte um ein einzelnes Begräbnis angesichts des durch den Krieg verursachten Leides nicht abgehoben sei – ganz so, wie man es heute aus unzähligen Streitigkeiten vor allem innerhalb der politischen Linken gewohnt ist.

Die Gewalt des Volkes

Während dieser Diskussionen schwebt stets wie ein bedrohlicher Geist der Wille des Volkes und die Furcht vor einem Aufstand über allem und muss mal für diese, mal für jene Ansicht als Argument herhalten. Dass die Macht des Volkes in dieser Welt aber mehr als eine vage Bedrohung ist, wird deutlich, als der Volksaufstand im unerwartet drastischen Finale des Stücks plötzlich Realität wird und die Frage in den Raum stellt: Wie konnte der Streit zwischen Antigone und Kreon so weit führen?

Man ist gespalten: Einerseits erinnert die Szenerie an die Erstürmung des Kapitols vor einem Jahr, andererseits ist klar, dass hier im Gegensatz zu dem Vorfall in Washington keine demokratische, sondern eine autokratische Regierung angegriffen wird. Slavoj Žižek kann indes am Premierenabend der Versuchung nicht widerstehen, nach der Aufführung klarzustellen, er könne Goethes Diktum „Besser Unrecht als Unordnung.“ nicht unterschreiben.

Es ist letztlich vor allem dieses unorthodoxe und einen neuen Blick auf die Antigone-Geschichte eröffnende Ende, das die neue Inszenierung von Koležnik zu einer lohnenden Erfahrung macht und dafür entschädigt, dass die an sich vielversprechende Idee einer Darstellung aus zwei Perspektiven wohl etwas kurzweiliger hätte realisiert werden können.

Karten zum Stück sind über die Website des Residenztheaters erhältlich.

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