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„Seelenstärke 10“: ein Schiff auf Pandemie-Flucht

Die neue Inszenierung der preisgekrönten Münchner Theatergruppe Grenzenlos verknüpft zwei aktuelle Themen: die Situation junger Geflüchteter in Deutschland und die Umstände der Corona-Pandemie.

Ludo Vico (l.) und Elvis Atofarati © Fotos: Marieluisa Lenglachner

Von Helena Borst

In dem weitläufigen Park der Mohr Villa Freimann wurde zwischen alten Bäumen eine Bühne aufgebaut. Das Publikum sitzt auf beiden Seiten des „Schiffsdecks“ und hat trotz Abstandsregeln eine gute Sicht auf die Schauspieler*innen. Sieben junge Männer, die aus Afghanistan, dem Iran, dem Irak und Nigeria geflohen sind, erzählen zusammen mit sechs Darsteller*innen aus Deutschland die Geschichte des Kreuzfahrtschiffs Seelenstärke 10.

Das Publikum wird mitgenommen auf eine Reise sieben Jahre in die Zukunft: Schlafwandelnd tanzen die Passagiere mit ihren Besen, in dem Glauben, die Pandemie würde das Anlaufen eines Hafens noch immer unmöglich machen. Der Irrtum deckt sich erst auf, als eine Gruppe Geflüchteter auf das Schiff gerät.

Mitfahrende und Besatzung nähern sich im Verlauf an

„Ich bin nicht freiwillig hier, habe dieses Land auf der Suche nach dem Glück gewählt, weil ich wie ihr existiere, weil auch mein Leben zählt.“ Mit diesen Worten lösen die jungen Männer einer nach dem anderen die Mitfahrenden aus ihrer Trance. Trotz der anfänglichen Sorge, sich zu infizieren, nähern sich Neuankömmlinge und Besatzung an. Durch diese Interaktion entsteht Raum, die Lebensgeschichten der einzelnen Charaktere vor der Flucht beziehungsweise vor dem Ausbruch der Pandemie zu erzählen. Die teils lustigen, teils berührenden Rückblicke reihen sich in einer Art Collage aneinander und werden immer wieder durch Schattenspiele verbildlicht.

Alle auf dem Schiff Festsitzenden befinden sich in einer schwierigen Lebenslage. Arrogant und abschätzig blickend, stöckelt die Diva, die schon lange nicht mehr singen kann, zwischen den schlafenden Neuankömmlingen umher. Doch als diese ihr zuhören und einer aus der Gruppe ihr sogar begeistert Applaus spendet, lächelt sie dankbar und fast schüchtern. Auch der einsame Clown freut sich über sein neues Publikum und findet in Abdul Hakim Rezai einen Partner, mit dem die plumpen Späße zu unterhaltsamen Witzen werden.

V.l. Angela Reich, Sandra Steffl, Stan Holoubek, Maria Maschenka

Selbst die sitzengelassene Sandra Steffl wird von der Lebensfreude Elvis Atofaratis‘ angesteckt und gemeinsam tanzen sie über das Deck. Dabei hat Elvis eigentlich wenig Grund, fröhlich zu sein. Er sehnt sich nach seiner Verlobten, die hofft, bald zu ihm nachkommen zu können. Auf ihren Mann wartet auch die vergessliche Angela Reich – nur, dass dieser bereits vor vielen Jahren verstorben ist.

Sie alle leben seit sieben Jahren in völliger Isolation, die von dem betrunkenen Kapitän angeordnet wurde, um sich vor den Gefahren an Land zu schützen. Als die Irrfahrenden schließlich erfahren, dass die Pandemie längst vorüber ist, zieht die Nachricht wie ein Gewitter über das Schiff.

Das Stück entstand im Corona-Modus in weniger als zwei Monaten

Schattentheater und Masken setzte die Theatergruppe, die seit 2015 in verschiedenen Konstellationen auftritt, bereits in früheren Stücken ein. Dieses Jahr musste sie mit einem zwischen den Bäumen gespannten Vorhang improvisieren und sich auch sonst auf viele Veränderungen einlassen. Nachdem die Gruppe bereits ein gutes halbes Jahr das selbst entwickelte Stück „Bayrisch Baklava“ einübte, wird der Probenprozess pandemiebedingt ausgesetzt. Regisseur Viktor Schenkel erinnert sich, wie schwer es fiel, die Gruppe über Videokonferenzen zusammenzuhalten. Er sei daher froh gewesen, als die Ausgangsbeschränkungen wieder gelockert wurden und das Ensemble erneut zusammenkommen konnte.

Angela Reich und Hani Ameen Samoo

Allerdings sei dem Ensemble das bereits geprobte Stück unpassend erschienen, wie der Regisseur erzählt. Stattdessen habe man die aktuellen Ereignisse aufgreifen und sich mit der jetzigen Situation auseinandersetzen wollen. So entstand „Seelenstärke 10“ in weniger als zwei Monaten. Geprobt wird fast ausschließlich am Wochenende, denn die Darsteller*innen sind gleichzeitig in Schule, Ausbildung und Beruf eingebunden.

Zusätzlich zu all der Ungewissheit im Entstehungsprozess der Inszenierung, ist bis kurz vor der Premiere unklar, ob der Regen aufhören und die Vorstellung beginnen würde. Schließlich kann Seelenstärke 10 nach Grußworten der Zweiten Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Grüne), einer Vertretung des Bayerischen Innenministeriums und des evangelischen Landesbischofs Heinrich Bedford-Strohm auf einer nassen Bühne starten. Das Publikum verfolgt die Aufführung unter mitgebrachten Regenschirmen. Regisseur Schenkel scheint nach dem Applaus sichtlich zufrieden. Die Jungfernfahrt der Seelenstärke 10 ist offenkundig ein voller Erfolg.

 

„Seelenstärke 10“ (Regisseur: Viktor Schenkel) ist noch bis 23. August an mehreren Abenden im Park der Mohr Villa Freimann zu sehen. Der Eintritt ist kostenlos, allerdings ist eine Reservierung nötig. Da die Aufführungen im Freien stattfinden, müssen sie bei Aussicht auf Regen gegebenenfalls ausfallen. Auskunft über eine etwaige Absage gibt jeweils eine Wetterhotline auf der Website.

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