Lyrik

Sapphos berühmtestes Liebesgedicht – eine Fehlinterpretation

In unserer „So war das sicher nicht gemeint“-Reihe nehmen wir uns berühmter Gedichte der Weltliteratur wie auch wichtiger Werke aus der bildenden Kunst an und interpretieren sie, auf dass unseren alten Deutschlehrer*innen die Haare zu Berge stehen mögen. Diesmal beschäftigen wir uns mit der antiken Dichterin Sappho und ihrem weltberühmten Liebesgedicht. Nur leider haben wir da was missverstanden…

Dante ist schon einmal nicht begeistert: Wir interpretieren die bedeutendsten Gedichte der Weltliteratur mal anders… Foto: Rhodan59, pixabay

Von Samuel Kopp.

Φαίνεταί μοι κῆνος ἴσος θέοισιν
ἔμμεν‘ ὤνηρ, ὄττις ἐνάντιός τοι
ἰσδάνει καὶ πλάσιον ἆδυ φωνεί-
σας ὐπακούει

καὶ γελαίσας ἰμέροεν, τό μ‘ ἦ μὰν
καρδίαν ἐν στήθεσιν ἐπτόαισεν·
ὠς γὰρ ἔς σ‘ ἴδω βρόχε‘ ὤς με φώνη-
σ‘ οὐδὲν ἔτ‘ εἴκει,

ἀλλὰ †καμ† μὲν γλῶσσα †ἔαγε†, λέπτον
δ‘ αὔτικα χρῶι πῦρ ὐπαδεδρόμακεν,
ὀππάτεσσι δ‘ οὐδὲν ὄρημμ‘, ἐπιβρό-
μεισι δ‘ ἄκουαι,

†έκαδε† μ‘ ἴδρως κακχέεται τρόμος δὲ
παῖσαν ἄγρει, χλωροτέρα δὲ ποίας
ἔμμι, τεθνάκην δ‘ ὀλίγω ‚πιδεύης
φαίνομ‘ ἔμ‘ αὔται· 

ἀλλὰ πὰν τόλματον, ἐπεὶ †καὶ πένητα†

Der Mann scheint mir den Göttern gleich
zu sein, der dir gegenüber
sitzt und deine süße Stimme
aus der Nähe vernimmt

und dein liebliches Lachen, was wahrlich mein
Herz in der Brust erregt:
Denn wenn ich dich nur kurz ansehe, so vermag
ich keinen Ton mehr zu sagen,

sondern meine Zunge ist gebrochen und feines
Feuer sofort mir unter die Haut gefahren,
mit den Augen sehe ich nichts mehr, es
dröhnen die Ohren,

Schweiß fließt an mir herab, ein Zittern
erfasst mich am ganzen Körper, grüner als Gras
bin ich geworden, beinahe tot
erscheine ich mir selbst;

doch muss man alles ertragen, da …

Über die Schöpferin des vorliegenden Gedichtfragments, die altgriechische Poetin Sappho (7./6. Jh. v. Chr.) ist wenig bekannt. Sie leitete wohl nach dem Tod ihres Mannes eine Art antikes Mädchenpensionat, eine Gemeinschaft junger Frauen, die sie auf das Erwachsenenleben vorbereitete. Zu diesem Zweck soll Sappho ihren Schützlingen auch Einführungen in die weibliche Sexualität gegeben haben – und zwar durchaus mit gewissen Praxisanteilen, weshalb der Ort dieses Geschehens, die Insel Lesbos, später zum Begriff für die entsprechende sexuelle Orientierung wurde. In diese Kerbe schlagen denn auch die herkömmlichen Deutungen dieses Gedichts, das unglücklicherweise gleich zu Beginn der fünften Strophe abbricht: Es sei eine starke Expression von Liebeskummer und Eifersucht, die das weibliche lyrische Ich hinsichtlich einer anderen Frau empfindet, vielleicht weil diese nun die Erziehungsgemeinschaft verlassen muss, um eine Ehe mit dem anwesenden Mann einzugehen.

So naheliegend, so langweilig. Da aber heute niemand mehr den Fortgang und das Ende unseres Gedichts kennt, eröffnet sich ein fruchtbarer Raum für allerlei alternative Deutungen und Spekulationen. So hat manch ein Wissenschaftler in den Strophen 3 und 4 auch schon eine detaillierte medizinische Beschreibung von Angstzuständen gesehen (kein Scherz). Dies geht schon in eine ganz schöne Richtung, wir aber möchten noch einen Schritt weiter gehen und zeigen, dass die dort geschilderten Symptome nicht einem psychischen Leiden, sei es nun Liebeskummer oder eine Panikattacke, sondern einer ganz (meta-)physischen Gewalteinwirkung zuzuschreiben sind.

Zunächst lohnt ein genauerer Blick auf den mysteriösen Mann, der nur in Strophe 1 erwähnt und sonst nicht weiter charakterisiert wird. Dass hier nicht, wie oft vermutet wird, ein konkreter Geliebter oder gar Bräutigam gemeint sein kann, zeigt sich darin, dass im griechischen Originaltext der Relativsatz mit einem Indefinitpronomen eingeleitet wird. Man könnte also auch ganz generisch übersetzen: „Wer auch immer dir gegenüber sitzt, scheint mir den Göttern gleich.“ Warum den Göttern gleich? Weil das Gegenüber des imaginären Mannes, die Adressatin des Gedichts, eine Gottheit ist! Und wer mit einer solchen an einem Tisch sitzt, erscheint eben den Göttern gleichgestellt, da Normalsterblichen dieses Vergnügen naturgemäß eher selten beschieden ist.

Zu dieser Annahme, dass die im Gedicht Angesprochene den Überirdischen zugehörig ist, passen die Symptome, die Sappho im Folgenden beschreibt: Zunächst bringt sie, sobald sie der Gottheit ansichtig wird, keinen Ton mehr heraus; eine ganz ähnliche Reaktion auf eine Gotteserscheinung beschreibt der römische Ependichter Vergil, dessen Helden Aeneas ebenfalls die Stimme versagt, als er vom Götterboten Mercur Besuch und einen wahrhaft epischen Anschiss bekommt. So ist auch der nächste Vers mit dem unter die Haut fahrenden Feuer ganz wörtlich zu nehmen: Dass die antiken Götter gerne mal Menschen anzündeten, auch davon weiß Vergils Aeneas zu berichten, musste er doch mitansehen, wie als Zeichen göttlichen Wirkens seines Sohnes Haupthaar Feuer fing.

In den nächsten beiden Versen verrät sich nun die Gottheit, die für all diese Leiden verantwortlich ist: Denn wer sollte plötzliches Erblinden und ein Dröhnen in den Ohren herbeiführen können, wenn nicht der Göttervater Zeus selbst mit seinen gefürchteten Instrumenten, dem Blitz und dem Donner? Und seine Gegenwart verfehlt auch hier ihre Wirkung nicht: Die Symptome, die in Strophe 4 beschrieben werden, Schweißausbrüche, Zittern und Blässe, sind im antiken Griechenland typische Begleiterscheinungen, wenn sich eine Gottheit eines Menschen bemächtigt, etwa im Rahmen einer Kulthandlung oder eines Orakels.

Kein Geringerer als Zeus ist also, wie nun jeder wird zugeben müssen, vom hohen Olymp herabgestiegen, um sich der Dichterin Sappho zu bemächtigen, sie zu entführen. Zu diesem Zweck hat er, gewissermaßen als homoerotischen Köder für Sappho, zunächst die Gestalt einer jungen Frau angenommen. Die bewährte Verwandlungsmasche also, mit der er sich schon mehr als einmal erfolgreich an Damen seiner Begierde herangemacht hatte (Leda und Europa wissen ein Lied davon zu singen). Dass Sappho laut antiken Quellen nicht gerade eine Schönheit gewesen sein soll – geschenkt. Wenn man der griechischen Mythologie glauben darf, war Zeus regelrecht notgeil, stellte außer seiner Gattin Hera so ziemlich jeder Dame nach. 

Mit unser Entführungshypothese klärt sich übrigens auch der Umstand auf, dass unser Gedicht so abrupt zu Beginn der 5. Strophe abbricht: Nicht hat es im Laufe der Überlieferung sein Ende verloren, vielmehr wurde Sappho durch Zeus‘ Erscheinen daran gehindert, es fertig zu schreiben.

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