Lyrik

Sah Christian Morgenstern den Morgen gern? Eine Fehlinterpretation.

In unserer „So war das sicher nicht gemeint“-Reihe nehmen wir uns berühmter Gedichte der Weltliteratur wie auch wichtiger Werke aus der bildenden Kunst an und interpretieren sie, auf dass unseren alten Deutschlehrer*innen die Haare zu Berge stehen mögen. Diesmal nehmen wir uns das Gedicht „Wer vom Ziel nichts weiß“ (1914)  von Christian Morgenstern vor. Nur leider haben wir da was missverstanden…

Dante ist schon einmal nicht begeistert: Wir interpretieren die bedeutendsten Gedichte der Weltliteratur mal anders… Foto: Rhodan59, pixabay

Von Michael Kister

Wer vom Ziel nicht weiß,
kann den Weg nicht haben,
wird im selben Kreis
all sein Leben traben;
kommt am Ende hin,
wo er hergerückt,
hat der Menge Sinn
nur noch mehr zerstückt.

Wer vom Ziel nichts kennt,
kann’s doch heut erfahren;
wenn es ihn nur brennt
nach dem Göttlich-Wahren;
wenn in Eitelkeit
er nicht ganz versunken
und vom Wein der Zeit
nicht bis oben trunken.

Denn zu fragen ist
nach den stillen Dingen,
und zu wagen ist,
will man Licht erringen;
wer nicht suchen kann,
wie nur je ein Freier,
bleibt im Trugesbann
siebenfacher Schleier.

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Der Dichter hat hier die bodenlose, doch hoffnungsvolle Orientierungslosigkeit einer munter berauschten Person im Sinne. Eine Gruppe von Freunden, versammelt, vielleicht zum allwöchentlichen Ritual, womöglich zum langersehnten Wiedersehen. Eines ist allen bekannt, um die Worte eines Literaten zu entleihen, der es faustdick hinter den Ohren hatte: Was sie bedürfen, das ist stark Getränke schlürfen. 

Schließlich ist jedoch der Moment gekommen, in dem das Geschlürfe im Begriff ist, seiner zweiten Wortbedeutung alle Ehre zu machen. Der Aufbruch rückt näher, das Vorglühen neigt sich seinem Ende zu. Und genau hier setzt unser gegenwärtiges Gedicht nun an, denn es pickt ein ganz bestimmtes Glied der Gruppe heraus. 

Entscheidend ist gewissermaßen der Aggregatszustand von dessen situativem Alkoholismus. Damit ist nicht der Pegel und seine simple Bezifferung des Blutalkoholgehalts gemeint. Das betreffende Subjekt hat exakt so viele Alkoholika zu sich genommen, dass es eigentlich zu betrunken für das Tanzlokal ist, sich aber gleiwohl nicht mehr davon überzeugen lässt, dass es besser wäre, daheim zu bleiben.

Nennen wir die Person, deren Geschlecht keine Rolle spielt, zum Zwecke der Betrachtung einfach Alkoholikus. Er wäre nun vollkommen aufgeschmissen ohne die tatkräftige Unterstützung seiner Freunde. Nachdem selbst das, was vor fünf Minuten geschah, seinem Gedächtnis entglitt, widerfährt selbstredend auch der Kenntnis des Weges zur Boazn dieses Abends ebenjenes Schicksal.

Doch unser Alkoholikus wählt den Pfad der trunkenen Ulkigkeit. Er hält es für überaus amüsant, den Fängen seiner Wohltäter zu entfliehen und sich in die nächste Seitenstraße davon zu machen. Er steht schließlich vor einer Gabelung, moralisch viel mehr als wegtechnisch. 

Folgt er den rar gewordenen Neuronenimpulsen seines Hirns, die ihn zurück zur Gruppe führen, in der er sich versenken kann, als Glied derer er die gemeinschaftliche Erkenntnis der Nacht kosten darf? Oder entscheidet er sich für die Route des egoistischen Epikureers, Herr seines eigenen Willens auf der Quest nach Vergnügung?

Verführerisches Gläserklirren schallt aus offenen Türen und droht, den Alkoholikus in seinen Bann zu ziehen. Findet unser Odysseus des Straßenmeeres keinen Mast, an den er sich zu fesseln vermag, so kann er sich nur in die Arme der Sirene namens Wodka Apfel werfen.  

Genau das soll, nein, muss er jedoch tun! Denn nur aus Test und Irrtum erwächst die Gewissheit, schlussendlich bereit für den richtigen Weg zu sein. Wer nicht irrte, kaum seiner selbst bewusst, durch schäbige Perlenvorhänge ranziger Bars, der ist nicht bereit. Ist nicht bereit, das Bewusstsein um seiner selbst ganz aufzugeben im Kreise der Engsten, die einen Kordon von Vertrautheit bilden auf der Demonstration des Lebens.

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