In unserer „So war das sicher nicht gemeint“-Reihe nehmen wir uns namhafter Gedichte der Weltliteratur wie auch wichtiger Werke aus der bildenden Kunst an und interpretieren sie, auf dass unseren alten Deutschlehrer*innen die Haare zu Berge stehen mögen. Diesmal haben wir das Gedicht „Stiller Besuch“ von Erich Kästner unter die Lupe genommen und kommen zu dem Schluss: Das Werk spielt ganz klar in der Zukunft und beleuchtet, wie das Mitteilungsbedürfnis unserer Gesellschaft zum Beruf wurde. Nur leider haben wir da was missverstanden…
Erich Kästner (1899–1974)
Stiller Besuch
Jüngst war seine Mutter zu Besuch.
Doch sie konnte nur zwei Tage bleiben.
Und sie müsse Ansichtskarten schreiben.
Und er las in einem dicken Buch.
Freilich war er nicht sehr aufmerksam.
Er betrachtete die Autobusse
und die goldnen Pavillons am Flusse
und den Dampfer, der vorüberschwamm.
Seine Mutter hielt den Kopf gesenkt.
Und sie schrieb gerade an den Vater:
„Heute abend gehen wir ins Theater
Erich kriegte zwei Billets geschenkt.”
Und er tat, als ob er fleißig las.
Doch er sah die Nähe und die Ferne,
sah den Himmel und zehntausend Sterne
und die alte Frau, die drunter saß.
Einsam saß sie neben ihrem Sohn.
Leise lächelnd. Ohne es zu wissen.
Stadt und Sterne wirkten wie Kulissen.
Und der Wirtshausstuhl war wie ein Thron.
Ihn ergriff das Bild. Er blickte fort.
Wenn sie mir schreibt, mußte er noch denken,
wird sie ihren Kopf genau so senken.
Und dann las er. Und verstand kein Wort.
Seine Mutter saß am Tisch und schrieb.
Ernsthaft rückte sie an ihrer Brille,
und die Feder kratzte in der Stille.
Und er dachte: Gott, hab ich sie lieb!
Im Gedicht Stiller Besuch berichtet Erich Kästner von einem Sohn, der ungeduldig seine Mutter beim ,,Ansichtskarten schreiben“(V. 2) beobachtet. Der Junge lässt seinen Blick über seine Umgebung schweifen und reflektiert über seine Besucherin, die nur für zwei Tage im Haus ist.
Die Mutter, der Workaholic
Schon im dritten Vers wird durch den Ausdruck ,,müsse(n)“ klar: Seine Mutter macht das alles hier nicht freiwillig. Mit dem ,,Vater“ in Vers 10 ist eigentlich ihr Chef gemeint, denn die Mutter ist eine prominente Instagrammerin und zu ihrem Sohn gefahren, um Präsenz bei der Theateraufführung zu zeigen (vgl. V. 11f.).
Die Beschreibung der Autobusse, der goldenen Pavillons und der Lichter der Stadt lassen nämlich auf eine moderne Großstadt schließen, Kästner hat also ein Zukunftsszenario entworfen. Die Mutter schreibt ihre Berichte demnach nicht etwa für das private Tagebuch oder die Tageszeitung, sondern entwirft Skripte für ihre Instagram-Story. Ausdrücke der etwas altmodischeren Sprache wie ,,Wirtshaus“( V. 3) oder ,,Ansichtskarte“ (V. 20) wollen uns hier in die Irre führen, Kästner versteckt hiermit seine Gesellschaftskritik etwas – aus Angst vor dem Hass einer medienverückten Masse.
Die stille Besucherin ist eine fleißige Arbeitsbiene, ,,ernsthaft (…) an ihrer Brille (rückend)“ (V. 26). Der Ausdruck ,,Thron“ (V. 20) für ihren Arbeitsplatz verrät, dass sie erfolgreich ist in dem, was sie tut. Natürlich entwickelt der Sohn hier Verlustkomplexe, sein ,,Gott, hab ich sie lieb!“ (V. 28) klingt verzweifelt; die Aussage ,,wenn sie mir schreibt“ verdeutlicht, dass seine Mutter sich nicht regelmäßig meldet, während er sich immer wieder Hoffnung auf Post macht.
Medienkompetenz vs. Sozialkompetenz: ein hartes Resumee
Kästner will uns also ermahnen: Wir alle vernachlässigen aufgrund der ständigen Reizüberflutung und unter dem Druck von Social Media das, was direkt vor unserer Nase ist. Zudem leidet unsere Konzentrationsfähigkeit unter dem ständigem Blaulichteinfluss, auch dies stellt Kästner klar: ,,Freilich war er nicht sehr aufmerksam.“ (V. 5) Mal wieder klassische Literatur lesen, das sollten wir, sodass es uns nicht so ergeht wie unserem Charakter zum Ende des Gedichts, als er das Buch auf seinem Schoß nicht versteht (V. 20). Kästner benutzt bewusst nüchterne Sprache, frei von umgangssprachlichen Ausdrücken, um darauf hinzuweisen, wie wenig die Regeln der Sprache dagegen Social Media beachtet werden.
Vorteile des Influencer-Darseins erwähnt Kästner jedoch auch: Die begehrten Eintrittskarten für die Theaterpremiere hat die Familie geschenkt bekommen (vgl. V. 15). Der Sohn sieht ,,zehntausend Sterne“ (V. 18), ist also finanziell dank seiner berühmten Mutter komplett abgesichert.
Doch welche Bilanz zieht Kästner? Ist er pro oder contra Instagram, Facebook & Co? Teilt er vielleicht selbst gerne sein Leben mit der ganzen Welt? Nein, denn mit nur einem Wort macht er klar, wie es unserer Prominenten geht, und dieser Zustand ist nicht wünschenswert:,,Einsam.“ (V. 21)