Lyrik

„Der Panther“ von Rainer Maria Rilke – Eine Fehlinterpretation

In unserer „So war das sicher nicht gemeint“-Reihe nehmen wir uns berühmter Gedichte der Weltliteratur wie auch wichtiger Werke aus der bildenden Kunst an und interpretieren sie, auf dass unseren alten Deutschlehrer*innen die Haare zu Berge stehen mögen. Diesmal beschäftigen wir uns mit Rainer Maria Rilke, dem Inbegriff des feingeistigen Poeten, und seinem wohl bekanntesten Werk „Der Panther“. Nur leider haben wir da was missverstanden…

Dante ist schon einmal nicht begeistert: Wir interpretieren die bedeutendsten Gedichte der Weltliteratur mal anders… Foto: Rhodan59, pixabay

Von Annika Merkle

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, daß er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, 5   

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, 10

geht durch der Glieder angespannte Stille –

und hört im Herzen auf zu sein.

Der Panther, Titelheld des Gedichtes, steht nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, ausschließlich für ein Leben in Gefangenschaft, sondern für einen Mann, der sich analog zu seinem weibliches Pendant, dem Cougar (oder zu Deutsch: der Puma), auf Liebschaften mit vielen jungen Frauen einlässt. Belegen lässt sich diese These durch eine für den studierten Germanisten sehr eindeutige Alliteration, die von Rilke in diesem Zusammenhang bewusst gewählt wurde – Puma und Panther: Beides beginnt, wie unschwer zu erkennen ist, mit einem stimmlosen bilabialen Plosiv, dem „P“. 

Sexuell ausgelaugt und erschöpft leidet er unter der nun greifbaren Sinnlosigkeit seiner Existenz und seiner abnehmenden Manneskraft: Er ist „so müd geworden, dass er nichts mehr hält“. Diese Formulierung stellt eine klare Metapher für im Alter auftretende Erektionsstörungen dar, welche den Panther weiter in die Sinnkrise treiben. Die „Stäbe“ (V. 1), die für bessere Zeiten seines Sexuallebens – nun ja… – stehen, sind vorübergegangen, sein alternder Körper verwehrt ihm die Lustbefriedigung.

Sein Wille, die sexuellen Triebe auszuleben, ist ungebrochen, doch wie an einem Krückstock kann er sich nur noch um einen kleinen Kreis drehen. Seine besten Jahre sind vorbei, das Alter holt ihn ein. Es kommt einem Todes„tanz“ (V. 7) gleich, die Kraft aufzubringen, weiterhin die alte Aktivität beizubehalten, doch der eigene Körper steht den leiblichen Gelüsten im Weg. 

Die dritte Strophe verdeutlicht einmal mehr die Verzweiflung des erschlaffenden Protagonisten. Das Glied, (hier im Plural aufgrund der vielen Liebschaften), liegt schon lange still – ungespannt zwar, aber doch in angespannter Erwartung; das Herz des Panthers erreichen nur noch selten Gefühle (V. 11). 

Durch rein sexuelle Beziehungen abgestumpft, ist der ältere Herr nicht mehr in der Lage wahre Liebe zu empfinden. Auch das Aussehen der mit ihm verkehrenden Damen reizt ihn nur noch selten. Wenn sich die „Pupille“ doch einmal für den Anblick öffnet, weicht das Bild schnell vor der schieren Wollust in den Hintergrund (V. 9f.). Aufgrund der enormen Altersdifferenz vermag der Panther keine geistige Beziehung mehr zu seinen jungen Frauen aufzubauen. 

Nur ihr Äußeres kann er von Zeit zu Zeit wertschätzen, doch seine Gefühlswelt stumpft durch die stark ausgeprägte Sexualität immer weiter ab, bis sie vollkommen erlischt (V. 12). Mit diesem Abstumpfen geht auch zwangsläufig eine Sinnkrise einher, welcher den Panther weiter in die Arme von noch jüngeren Frauen treiben wird. Ein Teufelskreis, aus dem er, wie aus einem Käfig, nie entkommt.

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