Premierenkritik. Das Residenztheater zeigt eine neue Inszenierung der antiken Tragödie Agamemnon von Aischylos – nicht etwa in München, sondern im Mutterland des Dramas, in Griechenland. Philtrat war vor Ort und hat sich diese besondere Aufführung angesehen.
Von Samuel Kopp
Nach dem zehn Jahre andauernden, blutigen Krieg um Troja kehrt der König doch noch siegreich in seine Heimatstadt zurück. Er kommt im Triumph, seine geliebte Gattin hat ihm einen purpurnen Teppich ausbreiten lassen. Doch hinter der freundlichen Fassade hat sich etwas verändert: Kaum hat der König von der Reise erschöpft seinen Palast betreten, ertönt ein markerschütternder Schrei. Seine Frau hat ihn im eigenen Haus abgeschlachtet wie ein Opfertier.
Aus diesem dramatischen Mythenstoff um das Ende Agamemnons, des Königs und Heerführers der Griechen vor Troja, schuf Aischylos vor beinahe 2500 Jahren seine gleichnamige Tragödie, die bis heute von Theatern weltweit interpretiert wird. Doch an keinem anderen Ort könnte das Stück stimmungsvoller auf die Bühne gebracht werden als in einem antiken griechischen Theater, besser noch: in dem von Epidauros, einer wunderschönen Anlage inmitten wunderschöner Landschaft, nur etwa 30 Kilometer von Argos entfernt, dem Ort, an dem Aischylos sein Drama spielen ließ. So ist diese Premiere von Ulrich Rasches Inszenierung des Agamemnon, die in Kooperation mit dem jährlich stattfindenden Athens Epidaurus Festival möglich wurde, für das Residenztheater und alle, die an diesem Abend hier sein dürfen, ein besonderes Privileg.
Moderne Theatertechnik an antiker Stätte
Zu Rasches Markenzeichen und Erfolgsgaranten hat sich in den vergangenen Jahren der Einsatz von Drehscheiben entwickelt, auf dem sich die Schauspieler*innen wie in einem horizontalen Hamsterrad ununterbrochen bewegen müssen, um auf der Stelle zu bleiben. Eine solche prägt beispielsweise seine von der Kritik gut aufgenommene Inszenierung des Woyzeck.
Selbst in Epidauros wollte der Regisseur nicht darauf verzichten und ließ mit großem technischen Aufwand eine riesige schwarze Drehscheibe auf die antike Orchestra montieren – was eine Enttäuschung für all die gewesen sein mag, die gespannt darauf waren, wie Rasche die besonderen Gegebenheiten dieses historischen Aufführungsortes für seine Inszenierung nutzen würde. Doch der Regisseur bleibt nicht nur, was das Bühnenbild betrifft, bei Bewährtem: Wie bei Rasche üblich sind die Schauspieler*innen auch für den Agamemnon in schlichte schwarze Kostüme gekleidet und auch die Vortragsweise verrät den Kopf hinter der Aufführung: Rhythmisch und von Trommeln begleitet hämmert das Ensemble in bewundernswerter Lautstärke Satz für Satz auf das Publikum ein. Was anfangs wie eine erhabene, ergreifende Art der Wiedergabe antiker Chorlieder wirkt, entpuppt sich bald als der Einheitstonfall für das gesamte Stück.
Diese Vortragsweise sorgt zwar an den Scheitelpunkten der Handlung durchaus für Gänsehautmomente – immer dann, wenn starke Emotionen der handelnden Personen vom Ensemble überzeugend wiedergegeben werden. Doch besonders in den Dialogpartien wird so jegliche Tiefe vernichtet. Dass Klytaimestras servile Freude bei Agamemnons Ankunft nur vorgeheuchelt ist, ging im andauernden Schreien der Protagonist*innen derart unter, dass man am Ende angesichts der Bluttat der eben noch so fürsorglichen Gattin fast schon überrascht sein konnte.
Schwerstarbeit auf der Bühne
Die überwiegende Konzentration auf möglichst eindringlichen Vortrag des Textes lässt schließlich auch das Gefühl entstehen, keinem Schauspiel im klassischen Sinne, sondern eher einer durchinszenierten Erzählung aus der griechischen Mythologie beigewohnt zu haben. Das Agieren der Beteiligten auf der Bühne beschränkt sich aufgrund der Drehscheibe im Wesentlichen auf die verschiedenen Möglichkeiten des Gehens, Schleichens und Schreitens; es dient nicht dazu, das Verständnis der Geschehnisse zu unterstützen. Man ist folglich im Wesentlichen auf das Hören angewiesen, wobei es aufgrund der beschriebenen Vortragsweise und der sehr gehobenen Sprache nicht immer leicht ist zu folgen. Zuweilen greift man dankbar auf die an den Tribünen angebrachten englischen (und neugriechischen) Untertitel zurück.
Der Leistung des Ensembles kann man angesichts dieser Umstände nur höchsten Respekt zollen und sich kaum vorstellen, wie anstrengend es sein muss, bei den immer noch fast 30 Grad Celsius des griechischen Abends unablässig mit Inbrunst Textzeilen über die Ränge zu rufen und dabei wie auf einem Laufband ständig in Bewegung bleiben zu müssen. Wie zweckmäßig es ist, Schauspieler*innen diese Art von Leistungssport abzuverlangen, mag allerdings dahingestellt bleiben.
Zumindest wird das Ensemble dafür am Ende von allen, die noch nicht durch den monotonen Trommelschlag und Sprechrhythmus hypnotisiert sind, mit dem verdienten Beifall bedacht. Den meisten wird dieser Abend wohl in schöner Erinnerung bleiben, was in diesem Fall freilich eher an den äußeren Umständen als an der Inszenierung selbst liegen wird.
Die besprochene Aufführung des Residenztheaters wird voraussichtlich ab 2024 in München zu sehen sein.