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Uhrwerk des Lebens

Das Residenztheater München bietet im Rahmen des Projekts „Resi sendet“ verschiedene Inszenierungen zu Georg Büchners Werken als Stream an. Noch bis 31.12.2020 können die Theaterstücke kostenlos auf der Website des Residenztheaters angesehen werden.

Nicola Mastroberardino (Mitte) als Woyzeck, umringt und unterlegen. © Foto: Sandra Then

von Susanne Sonnleitner

Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“, 1879 postum veröffentlicht, ist aus heutiger Sicht ein Paradebeispiel des Psychodrama-Genres. Trotz seines Alters wirkt das Stück erstaunlich aktuell und modern – nicht zuletzt dadurch, dass es die Gründe für den mentalen Absturz des Protagonisten nicht nur in dessen Wesen, sondern auch in sozialen Missständen sucht.

Das Residenztheater hat nun Ulrich Rasches Inszenierung des Theater Basel übernommen. Rasche drückt der Tragödie seinen ganz eigenen Stempel auf und setzt dabei auf schnörkellosen Minimalismus; es gibt keine Requisiten oder ein Bühnenbild. Die allesamt schwarzgekleideten Figuren bewegen sich unablässig Schritt für Schritt auf einer eigens konstruierten Drehscheibe. Livemusiker, die direkt neben der Bühne platziert sind, spielen während der Dauer des gesamten Stücks eine Art monotonen Militärmarsch und geben den Takt der Schritte der Schauspieler vor. Überhaupt wirkt die Inszenierung schwermütig und militärisch, was wiederum verstärkt wird durch die Art und Weise, wie die Schauspieler ihre Zeilen akustisch wiedergeben. Stimmen überschlagen sich und nicht selten werden die Zeilen geschrien, wobei jede einzelne Silbe überbetont wird. Das führt dazu, dass oftmals eine Diskrepanz zwischen dem Inhalt des Gesagten und dessen Betonung herrscht.

Gerade diese Art des Vortrags ist, besonders während der ersten halben Stunde, anstrengend und ungewohnt. Deshalb dauert es auch seine Zeit, bis man Zugang zur Inszenierung findet und den eigenartigen, sehr künstlichen Stil Rasches kennenlernt. Das Künstliche wird weiterhin in den Mittelpunkt gestellt, indem sich die Figuren so gut wie nie gegenseitig in die Gesichter blicken, sondern stets in die Ferne in Richtung Publikum starren, während sie miteinander sprechen. Körperliche Interaktionen finden kaum statt, jede Figur scheint für sich im Takt der runden Drehbühne, des Uhrwerks jener Welt, gefangen zu sein. Der Fokus liegt auf den Gesichtern der Schauspieler, die, der Ausdrucksmöglichkeit ihres restlichen Körpers beraubt, hauptsächlich durch Mimik agieren und reagieren.

Besonders die Figur des Woyzeck profitiert von dieser Trennung von Physischem und Mentalem; sein Gesichtsausdruck wirkt schon hysterisch, während sein restlicher Körper noch pausenlos voran schreitet und funktioniert, denn das muss er in dieser Welt, in der Stillstand ihn wortwörtlich aus der Bahn (und von der Bühne) werfen würde. Dieser stete Gang, den alle Figuren ausführen, zeugt von innerer Rastlosigkeit und kreiert einen bestimmten Rhythmus, dem jeder zu folgen hat. Er steht für den unnachgiebigen Rhythmus der Gesellschaft, mit dem Woyzeck schon bald nicht mehr Schritt zu halten vermag, auch weil ihm aufgrund seiner schwachen Position Steine in den Weg gelegt werden. Woyzeck kommt dabei zunehmend ins Straucheln. Er leidet unter der Diffamierung und dem psychischen Druck, den andere von oben herab auf ihn ausüben, und zerbricht schließlich daran.

Die ermüdende Anspannung und Unruhe, die trotz des regelmäßigen Takts der Schritte und der Musik entsteht, ist bemerkbar im Keuchen und Schwitzen der Schauspieler, und überträgt sich mitunter auch auf den/die Zuschauer*in. Die Dauer von zweieinhalb Stunden wirkt zuweilen erschöpfend, und hier und da hätte eine Beschleunigung des Spiels und des Handlungsverlaufs dem Fluss des Stücks gut getan.

Alles in allem ist Ulrich Rasches Inszenierung eine originelle, moderne und sehr minimalistische Version des Dramas, in der vor allem die Schauspieler durch ihr Mienenspiel glänzen. Die rhythmische Langsamkeit der Inszenierung, von durchgehender musikalischer Begleitung untermalt, schafft in Kombination mit der ungewöhnlichen Drehbühne eine außergewöhnliche Atmosphäre, die die Welt Woyzecks wie ein gigantisches, unaufhörlich dem bitteren Ende entgegen tickendes Uhrwerk erscheinen lässt.

Noch bis 31.12.2020 können Woyzeck sowie weitere Theaterstücke kostenlos auf der Website des Residenztheaters unter „Resi sendet“ angesehen werden.

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