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Eine Anleitung zum Überleben im 21. Jahrhundert

Das Theaterstück (R)Evolution von Yael Ronen und Dimitrij Schaad, das derzeit im Metropoltheater zu sehen ist, erzählt eine fatalistische Zukunftsvision einer technikbeherrschten Welt. Eine Rezension.

Jakob Tögel, Katharina Müller-Elmau, Vanessa Eckart Foto: Jean-Marc Turmes

Von Martha Baer und Patrycja Szarko.

Wir schreiben das Jahr 2040. Alles, was wir heute befürchten, aber entschlossen verdrängen, ist längst Realität geworden: Der Klimawandel zwingt die Niederländer, ihr Land zu verlassen. Die Genmanipulation erlaubt die Erschaffung makelloser Kinder. Algorithmen sagen uns, wie wir uns fühlen und was wir denken. Verhaftungen erfolgen präventiv aufgrund von Prognosen über das zukünftige psychische Befinden. Gegner*innen dieses Regimes werden als „Naturalisten“ bezeichnet. Zu ihnen gehört, wer auch nur den leisesten Zweifel an dieser dystopischen, optimierungsorientierten Gesellschaft hegt.

Das Stück von Ronen und Schaad bedient sich der Ideen aus Yuval Noah Harraris 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert und formt sie zu einer verheerenden Zukunftsvision. In dieser Geschichte sind die Menschen entfremdet und verwirrt. Sie versuchen sich einen Platz in der neuen Realität zu erkämpfen, während sie die alte noch nicht ganz loslassen wollen. Dieser Kampf wird von Alecto bewacht. Alecto ist die Personifikation der Digitalisierung. Als Chatbot und wichtigstes Kommunikationsmedium berechnet sie präzise und manipulativ die Reaktionen ihrer Besitzer*innen, um sich selbst zu vermarkten. Skurriler Höhepunkt dieser Intention ist ihr Wunsch, der in Form eines theatralischen Heiratsantrags an die besonders einsame und psychisch zerrüttete Besitzerin herangetragen wird, als Implantat endlich ganz ein Teil von ihr sein zu dürfen. Es gibt sie noch, die Romantik!

Alecto wird auf facettenreiche Weise von Katharina Müller-Elmau verkörpert. Von jedem*r Besitzer*in individuell einstellbar, changieren die Persönlichkeitssimulationen von freundlich monoton bis völlig überdreht. Diese Bandbreite ist theatralisch fabelhaft gemeistert.

Zwischen Entfremdung und Fortschritt

Jakob Tögel, Katharina Müller-Elmau, Vanessa Eckart Foto: Jean-Marc Turmes

So bildet Alecto den Dreh- und Angelpunkt dreier Handlungsstränge: Da gibt es ein junges Paar – René (Jakob Tögel) und Lana (Vanessa Eckart) – das seinen Wunsch nach einem zweiten Kind erfüllen will. Weil ein natürlich gezeugtes Kind aufgrund „schlechter Gene“ keine Krankenversicherung bekäme, lassen sie sich von Dr. Stefan Frank (Hubert Schedlbauer) zur künstlichen Befruchtung beraten. Durch die fortgeschrittene Genforschung stehen den werdenden Eltern verschiedene „Optimierungsangebote“ zur Verfügung: Sie können das Geschlecht, das Aussehen und die Intelligenz des Kindes bestimmen und es gegen Krankheiten immunisieren. Dadurch ergibt sich ein ethischer Konflikt innerhalb der Paarbeziehung: Während die zukünftige Mutter ihrem Kind die „besten Voraussetzungen“ für einen Start ins Leben geben will, äußert der werdende Vater ethische und moralische Bedenken.

Der zweite Handlungsstrang beschreibt das Leben von Dr. Frank (Hubert Schedlbauer). Trotz seines beruflichen Erfolgs in der neuen Welt hält das System auch für ihn Enttäuschungen bereit. Er vertraut der Technik mehr als sich selbst – ohne Alecto kann er gar nicht mehr sagen, wie es ihm geht. Paradoxerweise wirkt er gerade in dieser Verwirrtheit sehr menschlich. Sein Wunsch, mit seinem Partner (Marc-Philipp Kochendörfer) wieder physisch intim zu werden, anstatt den Geschlechtsverkehr virtuell zu vollziehen, wirkt in dieser dystopischen Welt beinah wie ein Fluchtversuch. Bei dem Partner stößt dieser Wunsch allerdings auf Unverständnis. Wie sich bei der von Alecto koordinierten Paartherapie herausstellt, liegt der Grund hierfür an einer anders gearteten Selbstentfremdung seines Partners: er outet sich als transhuman. Er möchte körperlos werden, als ein Gehirn in der Cloud nur noch in Form von Algorithmen weiterleben. Der Wunsch, die „physische Hülle“ als eine dem Geist unterlegene, fesselnde Materie hinter sich zu lassen, ist alt. Wo früher der Himmel erlösender Sehnsuchtsort war, ist es nun die „Cloud“. Durch die Gleichsetzung allen menschlichen Denkvermögens mit algorithmischen Vorgängen wird der allzu menschliche Wunsch nach Transzendenz pervertiert.

Die dritte Geschichte erzählt von einer Frau, die einst die Partnerin von René war. Verlassen und aller sozialer Kontakte außer der Beziehung zu ihrer Mutter beraubt, verkörpert sie die oft befürchtete Vereinsamung in einer scheinbar immer vernetzteren Welt. Auf eine Simulation eines Gesprächs mit ihrem ehemaligen Partner reagiert sie sehr emotional. Diese Begegnung, vergleichbar mit dem zu Beginn diesen Jahres erschienenen Video einer koreanischen Mutter, die virtuell einem Avatar ihrer verstorbenen Tochter begegnete, löst in dem Zuschauer ein ambivalentes Gefühl aus Mitleid und Befremdung aus.

Metapher für Überwachung und Transparenz

Katharina Müller-Elmau, Mara Widmann Foto: Jean-Marc Turmes

Den Rahmen für diese Geschichten bilden zwei jeweils von Müller-Elmau gehaltene Reden an das Publikum. Von großer Wirksamkeit ist hierbei das wunderbar konzipierte Bühnenbild. Dessen wichtigster Bestandteil ist eine enorme Fläche, die sowohl spiegelnd als auch transparent sein kann. Betritt man den Raum, ist dieser so aufgestellt, dass Zuschauende sich selbst sehen. Als Metapher für Überwachung und gleichsam Transparenz, können sie bei nach vorne gerichtetem Blick unbemerkt sich und die anderen Zuschauenden beobachten. Vor diese Spiegelwand tritt Müller-Elmau und berichtet, wie das Metropoltheater die aufführungsfreie Zeit für eine fortschrittliche Technisierung nutzte. Von nun an würden durch Kameras und Blutdruckmessgeräte die Vorlieben eines jeden Zuschauers während einer Aufführung erkannt, sodass in Zukunft personalisierte, für den jeweiligen Zustand passende Theatererlebnisse garantiert werden können. Nach dieser Ansprache leitet die Verwandlung des Bühnenbilds die erste Szene ein; die Spiegelfläche wird entlang zweier sich auf Schienen befindender Ringe gekippt und bildet so eine Art Überdachung. Durch die unterschiedlichen Winkel der Fläche können im Verlauf des Stücks immer neue Räume geschaffen werden. Den Epilog spricht Müller-Elmau als Alecto. „Sapiens?“, fragt sie zum Schluss befehlend in den Raum, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass um ihre Mundwinkel ein leises Lächeln spielt. Hinter der beleuchteten Spiegelwand erscheinen gebückte und mit affenähnlichen Masken bedeckte Gesichter, die sich mechanisch zu ihrer Gebieterin drehen.

Katharina Müller-Elmau, Vanessa Eckart, Hubert Schedlbauer Foto: Jean-Marc Turmes

KI und menschliches Bewusstsein

Jochen Schölch gelingt eine faszinierende Inszenierung, die das Publikum nachdenklich zurücklässt. Die auf die Spitze getriebenen Szenen wirken skurril und doch greifbar, befremdlich und doch menschlich. Das geschaffene Bild zeigt uns als Lebewesen, die sich technisch weiterentwickelt haben, emotional jedoch auf der gleichen Stufe geblieben sind – vielleicht auf der einzig möglichen. Deutlich wird diese Zerrissenheit durch die außerordentliche Leistung der Schauspieler*innen – in jedem konnte sich der*die Betrachter*in wiederfinden, bei jedem wurde mitgefiebert.

Mysteriös bleibt bei all dem Alecto: Als Künstliche Intelligenz dürfte sie über kein Bewusstsein und somit auch über keine Intentionen verfügen. Ihre Handlungen sind jedoch nicht immer logisch stringent und wertungsfrei. Durch die Vermischung dieser Elemente entfremdet sich das Stück von der Realität oder der real möglichen Zukunft – es erhält ein leichtes Science-Fiction-Flair, anstatt die Auseinandersetzung auf Potenzielles zu beschränken. Dennoch ist es allen Beteiligten gelungen, überzeugende Geschichten zu erzählen, die Fragen nach unserer Identität und unserer gegenwärtigen Entwicklungsstufe stellen.

Ja, der Mensch: Eine letzte Stufe auf dem Weg zum vollendeten künstlichen Wesen, von dem er schließlich abgelöst werden wird. Der Informatiker und Forscher Jürgen Schmidhuber benutzt gerne die etwas schiefe Analogie, derzufolge wir Menschen von Künstlichen Intelligenzen einst so wahrgenommen werden, wie wir Ameisen wahrnehmen: klein, irgendwie faszinierend, irgendwie auch ganz nützlich. Es kann sein, dass man versehentlich ein paar Ameisen zertritt, aber wirkliches Tötungsinteresse besteht letztlich nur, wenn die andere Gattung wirklich eine ebenbürtige Konkurrenzgefahr darstellt. Na dann, nochmal Glück gehabt.

Das Theaterstück (R)Evolution läuft noch bis Ende Juli im Metropoltheater in München. Weitere Informationen zum Stück wie auch zum Ticketkauf finden sich unter https://www.metropoltheater.com/stueckdetails/revolution/127.html

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