Kulturphilter Online

„Politische Begriffe sind notorisch unklar“

Ein Interview mit der Soziologin Prof. Dr. Villa Braslavsky über Identitätspolitik, Ambiguitätstoleranz, Erinnerungskultur und ein modernes Unbehagen in der Kultur.

Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky ist Lehrstuhlinhaberin für Soziologie und Gender Studies. Foto: Privat

Das Interview führte Martha Baer.

In aktuellen gesellschaftlichen Diskursen werden oft Schlagwörter wie „Cancel Culture“ oder „Identitätspolitik“ fallen gelassen. Nun gibt es für diese Begriffe keine eindeutige Definition. Gleichzeitig wird oft nicht klar, ob sie ein Phänomen objektiv beschreiben sollen oder bereits eine Wertung implizieren. Wie würden Sie diese Begriffe definieren?

Es gibt keine objektiven Begriffe. Jeder Begriff impliziert etwas und ist, außer vielleicht in der Mathematik, uneindeutig. Das gilt erst recht für politisch relevante Begriffe. Die Frage nach der Definition lässt sich also zweifach beantworten: Zum einen, wenn ich als Soziologin empirisch auf diese Begriffe schaue und beobachte, was jeweils darunter verstanden wird, ohne dass es den Diskursteilnehmenden vielleicht selbst klar ist. Politische Begriffe sind notorisch unklar, sonst wären sie politisch unbrauchbar. Die Bedeutungsvielfalt variiert enorm und genau das macht eine politische Diskussion so interessant. Zum anderen lässt sich aus meiner Perspektive als die einer Soziologin, die sich mit diesen Diskursen beschäftigt und sich an ihnen beteiligt, sagen, Identitätspolitik bezeichnet immer die politische Relevantmachung der Frage, wer gerade spricht. Nicht nur die sachliche Inhaltsebene ist wichtig, sondern als wer jemand spricht. Das Wer der Diskussion, des Themas wird zum Politikum gemacht. Für die Wahrnehmung des Inhalts ist es immer auch eine wichtige Frage, von wo aus wir denn den Inhalt erkennen, was also unser Standpunkt ist. Dieser Standpunkt kann bewusst sein oder unbewusst. Auch wenn wir es nicht glauben oder meinen, gibt es immer einen Standpunkt; wir sind schließlich nicht Gehirne in einem Tank, sondern stehen irgendwo. Wie relevant dieses Wo ist, ist eine unabschließbare Frage. In jeder politischen Diskussion kann diese Frage aber erstmal gestellt werden, was auch immer sie dann bedeutet.

Sie sprachen im Zusammenhang dieser letztlichen Undefinierbarkeit mal von einer „produktiven Unschärfe“. Worin genau sehen Sie im gesellschaftlichen Diskurs das Potenzial dieser Unschärfe der Begriffe? 

Diese Unschärfe ist kein Problem des Politischen, sondern notwendig für die Diskussion. In Bezug auf Identitätspolitik sehe ich trotz des niedrigen Niveaus, das diesbezügliche Diskussionen bisweilen annehmen, eine Art Fortschritt. Dieser Fortschritt ist genau das Potenzial, dass wir als Gesellschaft überhaupt erst mal ein Bewusstsein dafür kriegen, dass es eben auch darauf ankommt, wer spricht. Von wem für wen wird Politik gemacht, wer schreibt für wen, kurz: Wer ist das Wir der Politik, der Kultur, der Medien? Die Gesellschaft verändert sich und muss sich über sich selbst immer wieder verständigen. Das ist das, was mit Identitätspolitik passiert. Im Großen und Ganzen – toll! Wir generieren so eine große Menge an Selbstreflexion und Selbstaufklärung; und das geht zwingend mit Konflikt einher.

Bei der Frage „Wer spricht?“ geht es oft um Themen, die sich auf die Lebenswirklichkeit von Individuen beziehen, also zum Beispiel Gender, sexuelle Orientierung oder Hautfarbe. Diese Parameter sind, leider, oft dafür verantwortlich, in welcher sozialen Umgebung man sich wiederfindet. Sie werden in der Soziologie daher als Fragen nach der sozialen Position und den eigenen Erfahrungen diskutiert. Wie eng hängen diese Fragen mit der Frage nach Identität zusammen?

Ja, das ist wirklich ein Problem. Ich habe diesbezüglich schon oft vor einem „positionalen Fundamentalismus“ gewarnt. Wer als weiße, privilegierte Professorin lebt, denkt nicht immer als solche und handelt auch nicht immer als solche. Dieser Kurzschluss wird aber manchmal unterstellt: Wer so und so positioniert ist, denkt auch so. Das würde ich sehr kritisch sehen. Ich würde es allerdings auch sehr kritisch sehen, das völlig voneinander zu trennen, denn das kann man nicht. Unsere Haltungen, unser So-Sein ist stark geprägt von den Positionen, in denen wir uns befinden. Aber diese Bezüge sind komplex, es sind gebrochene, widersprüchliche, sich verändernde Dynamiken. Es ist ein Vermittlungszusammenhang. Darüber sollte man auch wieder mehr forschen. Identität ist ja im Kern die Frage: „Wer bin ich?“. Inwiefern es dann für uns in manchen Situationen dazugehört, zu sagen: „Ich bin weiblich, Sportlerin, chronisch krank et cetera“, das ist eine offene Frage, und die Antwort kann sich auch verändern. Die sozialen Positionen sind Bedingungen von Identität, die Identität ist aber nicht durch sie determiniert. Ein gesellschaftliches Gespräch ist hierbei sehr wichtig. Es beinhaltet das Zuhören, das Sich-Einlassen, das Wahrnehmen von Stimmen im öffentlichen Raum, die lange nicht gehört wurden. Durch eine Fundamentalisierung dieser Diskussion, auf allen Seiten, machen wir es uns da schwer.

So ein Diskurs ist ja auch irgendwie schwierig, unbequem, es kommen Sachen auf einen zu, die man nicht kennt. Man braucht auf jeden Fall ein gewisses Maß an Ambiguitätstoleranz.  Bernd Stegemann behauptete in einem Interview mit Ihnen, dass Phänomene wie Identitätspolitik oder Political Correctness Versuche seien, Ordnung und Eindeutigkeit in eine polyphone und chaotische Welt zu bringen, etwa durch Forderungen, „wer was wann wie sagen darf“. Der Gedanke, dass die Moderne ein „Kampf gegen Ambivalenz“ sei, wie es der Soziologe Zygmunt Bauman formulierte, ist ja nicht neu. Wie sehen Sie das, sind Identitätspolitik und der Wille zur Eindeutigkeit überhaupt in Verbindung zu bringen?

Es ist eine komplexere Frage, als Stegemann das dargestellt hat, aber im Prinzip würde ich da mitgehen. Ja, es kann Formen von Identitätspolitik geben, die genau das sind. Auch durchaus in linken, sich für progressiv haltenden Kontexten gibt es solche fundamentalistischen „Reinheitsgebotsbegehren“, die sehr problematisch sind. Zum Beispiel Leute, die extrem darauf insistieren, dass ihr Name richtig ausgesprochen wird. Ich komme ja selber in diese interessante Situation. Ich werde überhaupt erst danach gefragt, wie man meinen Namen ausspricht, seit ich Professorin bin. Wenn ich dann erwidere, dass es mir egal sei und sie es so machen sollen, wie es für sie am einfachsten ist, dann bestehen manche regelrecht darauf. Sie wollen also gewissermaßen die Absolution, das ganz richtig zu machen. Wenn wir uns da entgegenkommen und jemand sagt, dieser Name sei komplex, er nehme das wahr und möchte sich aber damit auseinandersetzen, dann sage ich, dass alles gut ist. Etwas anderes ist es, wenn jemand denkt, er wisse das eh schon alles. Ich würde also an Stegemann und viele andere gerichtet sagen, dass die Beispiele nicht immer richtig sind. Identitätspolitik kann dazu genutzt werden, zu sagen: „Schau mich an, ich bin schwarz, jüdisch, Mutter,…“. Und darum geht es auch. Man muss das nicht verabsolutieren und sagen, es geht nur noch darum. So zu tun, als sei das nicht wichtig, perpetuiert bestimmte Herrschaftsformen, die auch Identitätspolitik sind, die aber nicht so genannt werden. Wenn hier sonntags die Glocken klingeln, in den Schulen meiner Kinder oder im Zentraltreppenaufgang des Landtags ein Kreuz hängt, ist das Identitätspolitik. Das ist es ja nicht nur dann, wenn Leute jetzt sagen „wir auch“, sondern Identitätspolitik gab und gibt es immer schon, nur mehr oder weniger ausgesprochen. Leute, die nur gegen diese neuen Formen wettern, müssen auch anerkennen, dass sie selbst ein bisschen mehr Ambiguitätstoleranz in Bezug auf ihre eigene Geschichte der Moderne haben könnten. 

Die Frage ist, was zu dem Bewusstsein führen kann, dass es Identitätspolitik bereits gibt. Erst kürzlich gab es wieder viele Diskussionen, als Gormans Gedicht The hill we climb ins Niederländische übersetzt werden sollte und die weiße Übersetzerin Rijneveld ihren Auftrag aufgrund des Vorschlags zurückzog, jemand, der sich besser mit Gormans Hintergrund identifizieren könne, also eine Person of Color, sei hierfür besser geeignet. Kritiker*innen befürchten, dass durch den Fokus auf die Hautfarbe vorhandene Denkmuster und Machtstrukturen mehr verstärkt als überwunden werden. 

 Ich würde das eine paradoxe Emanzipationsform nennen. Es ist das große Versprechen der Moderne, bestimmte Differenzen zu überwinden, indifferent zu werden gegenüber nicht rein sachlichen Differenzen. Das, was zählen soll, ist Leistung oder Kompetenz und nicht Hautfarbe oder der Stand der Eltern. Das gilt es unbedingt ernst zu nehmen. Gleichzeitig ist die Moderne dadurch geprägt, dass sie dieses Versprechen empirisch nicht nur nicht einlöst, sondern systematisch verunmöglicht. In dieser Spannung gilt es, paradox zu intervenieren. Man muss die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, dass diese Neutralität, dieses rein Meritokratische total wichtig ist, aber uneingelöst. Und man muss auch Institutionen und Organisationen darauf aufmerksam machen, dass sie selber dazu beitragen, Differenzen weiterhin als Inklusions- und Exklusionsmechanismus zu benutzen, wenn sie sie nicht adressieren. Differenzen tot zu schweigen oder zu sagen, wir tragen da was in die Wissenschaft, was dort nicht hingehört, verschärft das Problem. Es gibt ein strukturelles Problem, und um das zu adressieren, muss man sich an dieser Stelle auf die Differenzen einlassen. Das Argument, zu sagen, dass die Betonung der Differenzen alles nur schlimmer macht, ist nicht stichhaltig. Aber dennoch stimmt es. Im Fall der Übersetzung über race zu sprechen, betont natürlich genau das, betont genau race. Aus dieser Nummer kommen wir nicht raus. Es gibt aber einen performativen Aspekt: Je mehr wir über Differenzen sprechen, desto höher die Chance, wieder von ihnen abzusehen, sie zu verflüssigen, zu „deontologisieren“. 

Kontrovers diskutiert ist momentan auch der Umgang mit historischen Zeugnissen und somit mit der kollektiven Vergangenheit. Soll man Straßen umbenennen, Statuen stürzen, in historisierende Filme etwa schwarze Schauspieler einbeziehen in Situationen, in denen sie in der damaligen Zeit nicht repräsentiert waren? Was bedeuten derartige Überlegungen für die Geschichts- und Vergangenheitswahrnehmung, für die Erinnerungskultur einer Gesellschaft und damit für ihre Zukunft?  

Das ist eine wichtige und a priori unbeantwortbare Frage. Wir müssen abwarten, was das bedeutet. Ich denke, dass genau diese Diskussion darüber wichtig ist. Im Geflecht der verschiedenen Stimmen wird deutlich, dass wir als Gesellschaft sehr viel lernen, wenn wir hinterfragen, wie wir uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen. Schon die Diskussion darüber bedeutet, im besten Fall, eine gesellschaftliche Selbstaufklärung. Früher wäre ich da noch enthusiastischer gewesen. Momentan denke ich, so wie wir manche Diskussionen führen, auch durch die Logik der Sozialen Medien, trau ich meiner eigenen Begeisterung nicht mehr ganz über den Weg. Aber etwas anderes habe ich auch gar nicht anzubieten. Ich glaube, wir sind einfach dazu verdammt, und gleichsam befähigt, diese Diskussionen immer wieder zu führen. 

Bei all diesen Diskussionen ist eine moralische Aufladung zu beobachten. Der Begriff „Cancel Culture“ impliziert auch einen von manchen so wahrgenommenen Zustand, in dem man „Angst haben muss, was man sagt“…

Wenn es nicht gleich fundamentalistisch wie eine Keule eingesetzt wird und wir die ganze Polemik mal beiseitelassen: Ja, ich kann das gut nachvollziehen. In der Öffentlichkeit aufgrund mangelnder Fähigkeiten beschämt zu werden, von denen man gar nicht wusste, dass man da etwas falsch machen kann, ist eine schlimme Erfahrung. Wenn dazu noch das Gefühl kommt, dass man damit alleine ist, marginalisiert wird, kann ich nachvollziehen, dass daraus Ressentiments entstehen können. Es gibt ein gesellschaftlich erzeugtes und in bestimmten Kontexten wirklich legitimes Unbehagen, das ungute Erfahrungen dieser Art von gesellschaftlicher Beschämung nach sich ziehen. Es wäre gut, wenn wir dabei aus Rechts-Links, Oben-Unten-Erzählungen rauskommen würden, um dieses Unbehagen, das es ja gibt und das politisch wirklich eine wichtige Rolle spielt, zu adressieren.

Glauben Sie, dass dieses Unbehagen notwendig für eine Veränderung ist?  

Ja und Nein. Wenn das Unbehagen und Unvermögen mancher Leute gegen sie verwendet wird, wenn ich ihnen etwa einen Strick daraus drehe, dass sie nicht in der Lage sind, meinen Namen richtig auszusprechen, dann blockieren sie und verteidigen sich. So kommen wir nicht weiter. Aber wenn wir gemeinsam einen hinreichenden Safe Space hinkriegen, um zu sagen, das war jetzt nicht gut formuliert, das war rassistisch, was du gesagt hast, aber lass uns darüber reden, und man kommt so in ein Gespräch, dann kann daraus etwas entstehen. Und ich glaube, das passiert auf jeden Fall. Es entstehen wirklich Lernprozesse, und die brauchen Zeit. Wenn andere Lebenserfahrungen und Lebenswirklichkeiten sichtbar werden, ohne dass es gleich heißt, du musst dazu Stellung beziehen, du musst das auch so machen, also wenn wir Pluralität erstmal wahrnehmbar machen, können sich über die Zeit Veränderungen ergeben. Ich glaube also schon, dass aus so einem Unbehagen Veränderungen entstehen können, sofern es nicht in einem bestimmten Sinne als Strick verwendet wird. Schwierig wird es, wenn das Unbehagen in einen Willen zur Ignoranz umschlägt.  

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