Immunisierte sollen ihre Freiheiten teilweise wieder zurückbekommen – obwohl viele andere noch nicht einmal den Anspruch auf eine Impfung haben. Ist das vertretbar? Ein Pro und Contra.
Ein Plädoyer für alle, die nicht dürfen
Contra von Michael Kister
Das Bundesjustizministerium unter der Führung von Christine Lambrecht hat einen Entwurf ausgearbeitet, der vollständig gegen Corona Geimpften gewisse Freiheiten zurückgeben soll. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zufolge wolle man spätestens nächste Woche darüber entscheiden.
Mit vollständig Geimpften sind zunächst einmal solche Leute gemeint, die vor mindestens 14 Tagen ihre zweite Dosis von AstraZeneca, BioNTech/Pfizer oder Moderna erhalten haben. Beim Impfstoff von Johnson&Johnson reicht bereits eine Dosis. Sie sollen einerseits wie Personen behandelt werden, die einen negativen Corona-Test vorweisen können. Das ebnet ihnen bei hohen Inzidenzen beispielsweise den Weg zum Frisiersalon oder Termin-Shopping, auch ohne Test. Andererseits sollen für vollständig Geimpfte dem Entwurf zufolge darüber hinaus keine Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen mehr gelten.
Moment, was? Genau, das heißt, sie dürften sich zwischen 22 und 5 Uhr frei bewegen und sich mit so vielen vollständig gegen Corona immunisierten Menschen treffen, wie sie möchten. Achso, und wenn sie mit ihren ungeimpften Freund*innen beisammen sind, dann würden sie nicht als zusätzliche Personen im Sinne der Kontaktbeschränkungen zählen. Justizministerin Lambrecht sagt, Grundrechte könnten ohne guten Grund nicht mehr eingeschränkt werden. Weil von vollständig Geimpften kein Infektionsrisiko mehr ausgehe, falle dieser Grund weg.
Wir greifen nach jedem Strohhalm Normalität
Mir geht es hier nicht um die Frage, ob die Impfung eine Weitergabe des Virus zu 100 Prozent verhindert. Ich bin davon überzeugt, dass die Impfung der richtige Weg ist, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Ich werde mich impfen lassen, sobald ich es kann, weil ich glaube, dass es richtig ist.
Doch genau das ist der Punkt. Dieses „sobald ich es kann“ liegt vielleicht im Mai, vielleicht im Juni, vielleicht aber auch erst im September. Die meisten Studierenden befinden sich wohl in einer ähnlichen Lage. Wir sind seit über einem Jahr an unsere Bildschirme gefesselt, denn die Unis macht niemand auf. Wir greifen nach jedem Strohhalm Normalität, auch wenn er in einer Plastiktüte Aperol Spritz steckt. Und dann wirft die Justizministerin dieses Bambusrohr von einem Strohhalm aus. Sollten wir nicht froh sein?
Es geht nicht um das „Warum“, sondern um das „Dass“
Wenn wir etwas davon hätten, ja. Solange aber nicht alle die Möglichkeit hatten, sich die erlösenden Pikser abzuholen, ist es schlicht und ergreifend unfair. Es ist unfair, wenn wir um 22:15 Uhr aus dem Fenster schauen und auf der Straße eine Person steht, weil sie geimpft ist und wir nicht. Wir wollen doch unseren Arm hinhalten.
Wenn Grundrechte in außerordentlichen Notsituationen zum Wohle aller eingeschränkt werden, so ist das in Ordnung. Etwas, was sonst jeder Mensch in Deutschland besitzt, wird dann eben für alle beschnitten, damit es allen bald besser geht. Sobald dieses erhabene Gut aber manchen wieder zurückgegeben wird, kann man den anderen schwerlich erklären, warum sie noch ausharren müssen. Es geht hier nicht einmal um das Warum, sondern vielmehr um das Dass. Es wird die Leute einfach fertig machen, dass sie zu denen gehören, die nicht dürfen. Wer will, kann hierin durchaus einen weiteren, dicken Tropfen in das Fass vernachlässigter psychologischer Folgen der Pandemie sehen.
Keine Beschränkungen ohne Grund
Pro von Max Fluder
Freiheit ist ein großes Wort. Bis vor gar nicht allzu langer Zeit haben die Wenigsten von uns sich Gedanken gemacht, was das eigentlich alles bedeutet. Die Freiheit, feiern zu gehen. Zu reisen. Sich mit Freund*innen und Verwandten zu treffen. Sich zu umarmen. Nähe zu spüren. Schöne Dinge sind das. Nur liegen sie – mit gefühlt viel zu kurzem Intermezzo im vergangenen Sommer – alle sehr weit zurück.
Wir in Deutschland Lebenden haben, ganz grundsätzlich gesprochen, ein großes Glück. Denn uns sind viele dieser Freiheiten im Grundgesetz garantiert. Der Staat darf unsere Grundrechte nur unter besonderen Umständen einschränken. Die Pandemie ist so ein Fall, wobei eines wichtig ist zu betonen: Die staatlichen Maßnahmen zielen darauf ab, einen Zusammenbruch des Gesundheitswesens zu verhindern. Nicht mehr, nicht weniger.
Ist eine Person immunisiert, hat sie also eine vollständige Impfung erhalten und die Wirkung des Vakzins hat eingesetzt, dann ist ein schwerer Krankheitsverlauf so gut wie ausgeschlossen. Auch gibt es gute Hinweise – etwa vom RKI – dass Geimpfte das Coronavirus auch nur in den seltensten Fällen verbreiten. Die Pandemie treiben, wie es heißt, das können Geimpfte nicht mehr – und genau deshalb fehlt die Grundlage, sie weiter in ihren Freiheiten zu beschränken.
Sie nehmen uns ja nichts weg, im Gegenteil
Natürlich trifft das alles gerade nur auf einen begrenzten Personenkreis zu, überwiegend Senior*innen und medizinisches Personal, die weiß Gott anderes im Kopf haben, als Partys zu feiern. Aber nur weil Senior*innen und nicht wir Studierenden in den Genuss kommen, von Testpflichten und Kontaktbeschränkungen ausgenommen zu sein, ist das jetzt schlimm?
Bitte nicht falsch verstehen. Ich würde auch gerne wieder feiern, Essen gehen, unbeschwert reisen, und so weiter. Diese Pandemie zieht uns alle herunter, die weniger Wohlhabenden noch viel mehr – und trotzdem will mir nicht klar werden, warum diejenigen, die unbeschwerter leben könnten, es nicht sollten. Sie nehmen uns ja nichts weg, im Gegenteil. Für die Hochbetagten unter den bereits Immunisierten ist das vielleicht der letzte Frühling. Da sollten diese Menschen nicht auch noch unter Regeln leiden, die für sie ihre Berechtigung verloren haben.
Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzt, fordert, dass alles von Bahnwärter Thiel bis Volkstheater wieder für Geimpfte aufmacht. Praktisch geht es hier um Sachen wie die Testpflicht beim Frisiersalon. Aber das ist nur die eine Seite: Emotional geht es nämlich um eine vermeintliche Solidarität – ein so überstrapaziertes wie schwammiges Konzept. Klar, es wäre schöner, wenn alle wieder alles dürften – bald werden wir wohl auch so weit sein. Und bis dahin sind die wenigen zurückgewonnenen Freiheiten der Immunisierten kein Sinnbild einer Zweiklassengesellschaft, sondern der Ausblick auf ein rosigeres Morgen.