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Die Suche nach der dionysischen Ekstase

Zeitsprung 2500 Jahre zurück: Das zehnstündige Stück „Dionysos Stadt“ an den Kammerspielen orientiert sich an den „Dionysien“ des klassischen Griechenlands. Doch wird das Schauspiel dem Gott der Ekstase gerecht? Ein Erlebnisbericht.

Benjamin Radjaipour © Julian Baumann

Von Niklas Münch

Ich hasse es im Theater zu spät zu kommen. Zunächst schauen die Saaldiener tadelnd auf dich herab. Dann gilt es im Dunkeln noch die richtige Reihe und den richtigen Platz zu finden. Schließlich muss jeder in der Reihe aufstehen, damit du an deinen Platz kommst, da die Reihen im Theater so dicht aneinander stehen. Wenn Blicke töten könnten. Das wirkt disziplinierend, nirgendwo ist es mir so wichtig pünktlich zu kommen wie im Theater. Neben der Oper hat das Theater noch die strengsten Etikette eines Unterhaltungsetablissements.

Genau diese verstaubte und starre Etikette aufzulösen, die sich in jahrhundertealter Theatergeschichte herausgebildet hat, nahmen sich die Kammerspiele vor, um zu einer ursprünglichen Form des Schauspiels zurückzukehren. Unter dem Titel „Dionysos Stadt“ werden drei Stücke aus dem klassischen Zeitalter Griechenlands und ein modernes, neu konzipiertes, „Satyrspiel“ gezeigt, in einer klassischen Tetralogie. Und das in erschlagenden zehn Stunden. Vorbild sind hier die „Dionysien“. Christopher Rüping, der Regisseur des Großprojekts, nennt es in einem Interview ein „Live-Experiment mit offenem Ausgang“.

An diesem Experiment wollen meine zwei Freunde und ich gerne teilnehmen, also finden wir uns an diesem sehr kalten Sonntag im November, um zwölf Uhr in den Kammerspielen ein. Wir informierten uns extra nicht im Vorhinein und wollen uns überraschen lassen. Ich steigere den Überraschungseffekt noch unfreiwillig durch mein Zuspätkommen, da ich so die Hälfte der Vorrede verpasse, in der vor dem Stück die Zuschauer vor dem „Schlimmsten“ gewarnt werden, wie mir dann mein Freund Dominik später erzählt.

Nils Kahnwald, Maja Beckmann, Benjamin Radjaipour © Julian Baumann

Erst einmal ein Blick in die Reihen, von unseren Sitzplätzen auf dem Balkon aus habe ich einen guten Überblick. Das Theater ist fast voll besetzt, es gibt nur ein paar leere Plätze in den hinteren Reihen. Das Publikum lässt sich relativ einfach in zwei homogene Gruppen teilen: Dort ist zum einen das theatererprobte Hochkulturpublikum, sichtlich schon etwas in die Jahre gekommen. Zum anderen sind dort viele junge Menschen, die meisten Studierende wohl. Man trägt Beanie oder graue Haare. Rentner*innnen oder Studierende, also Menschen mit Zeit. Das macht auch Sinn, welche gehetzte Großstädterin mit einem 40-Stunden-Job sollte ihren hochheiligen freien Sonntag für einen solchen Quatsch opfern, wenn sie in der gleichen Zeit eine ganze Staffel einer beliebigen Serie auf Netflix binge-watchen kann, bequem zu Hause auf dem Sofa und nicht auf diesen ungemütlichen Klappstühlen?

Das ist eine gute Frage. Warum sind wir drei nochmal hier? Achja, genau, wir sind hier um dem Dionysischen nachzuspüren. Im Griechenland des klassischen Zeitalters waren die Dionysien Festspiele zu Ehren des Gottes Dionysos. An fünf aufeinanderfolgenden Tagen traten verschiedene Komödien, Tragödien und Chöre in einem Wettbewerb der Künste gegeneinander an. Es wurde den ganzen Tag gespielt und mit Hilfe literweise Weins, der dort kostenlos an alle Zuschauer ausgeschenkt wurde, ein kollektiver Rauschzustand angestrebt. Zu Beginn dieser Festtage wurde in einem großen Umzug das Kultbild Dionysos‘ zum Spielort gebracht: eine riesige Phallusskulptur. Ich stelle mir gerade eine Prozession des hier anwesenden Publikums vor, dass im Gefolge eines riesigen Penisses auf der Protzmeile Maximilianstraße gen Kammerspiel entlang zieht. Das wäre zumindest eine gute Werbung für das Stück gewesen.

Maja Beckmann © Julian Baumann

In der Mitte des ersten Stücks, nach ungefähr einer Stunde, spüre ich bereits jemanden mir schwer in den Nacken atmen. Der erste Zuschauer schläft bereits. Oder macht er nur ein kleines Nickerchen um Kräfte zu sammeln für die kommenden neun Stunden? Ich beneide ihn wie er da an seine Freundin gekuschelt friedlich schlummert. Der Rest des Publikums schaut jedoch gebannt und konzentriert zu. Mein Hintermann wird jäh aus seinem Schlaf gerissen, als auf einmal das Licht angeht und die Schauspieler das Publikum bitten aufzustehen, und zwei von ihnen schließlich stagediven, über die ergrauten Köpfe im Parkett. Ich habe etwas Angst, dass einer der Abobesitzer in den vorderen Reihen einen Schauspieler fallen lässt, schließlich ist das Publikum dort unten nicht wirklich an ein solches Ritual gewöhnt, dem man eher auf Rockfestivals begegnet, statt in den ehrwürdigen Hallen der Hochkultur.

In der ersten Pause gönnen Dominik und ich uns das erste Bier, während sich die anderen Besuchern lieber noch am Kaffeebecher oder Wasserglas festhalten. Wir fragen uns, ob der dionysische Moment hier heute noch einsetzt. Also der Zustand des kollektiven Rausches, in dem Zuschauer und Spielende zu einer ekstatischen Masse zusammenwachsen, total im Augenblick gefangen. Dominik ist skeptisch, er bezweifelt ob das „Münchner Theatervolk“ aus seinem „Theater-Habitus“ ausbrechen kann. Wir versuchen derweil unser Bestes um dem nachzuhelfen. Im kalten Innenhof auf einer Bank sitzend, krame ich das Gras hervor und baue uns einen Joint für die nächste Pause. Meine zittrigen Hände kriegen nur eine sehr krumme Lunte hin, aber er wird seinen Dienst tun. Im Foyer, neben der Kaffeebar, legt ein DJ groovy Beats auf, doch bringt er damit die Leute jetzt noch nicht zum Tanzen.

Auch das nächste Stück zieht die Zuschauer direkt in seinen Bann. Es kommt recht bombastisch daher, mit großflächigen, kunstvollen Projektionen, lauten Synthies und kräftigem Drums. Mit dem Hinweis „Es wird laut werden“ wurde auch davor, in der von mir verpassten Vorrede gewarnt, wie mir Dominik in der Pause erklärt. Damit sind also alle Überraschungsmomente im Voraus vorweg genommen. Zuviel will man dem Publikum dann anscheinend doch nicht zumuten. Aber sollte Theater nicht gerade das sein, eine Zumutung? Berieselung und heitere Unterhaltung, die nicht anstrengt, kann ich auch im Kino finden, oder eben zu Hause auf dem Sofa beim Netflix schauen. Theater ist im Idealfall Heraus- und auch Überforderung, Überwältigung.

Nach dem zweiten Stück, in der Mitte dieser Gesamtvorstellung, ist eine längere Pause. Ein griechisches Lokal wäre jetzt der passende Ort für eine Stärkung, doch wir suchen den Kontrast und kehren in ein benachbartes bayerisches Traditionswirtshaus ein. Wobei, war nicht der erste König von Griechenland auch ein Wittelsbacher? Statt Otto thront jedoch Franz-Josef über unseren Köpfen, der wahre letzte König von Bayern. Knödel und Weißbier bilden eine gute Grundlage für die nächsten vier Stunden. Zum Nachtisch auf dem Weg zurück zum Theater gibt es noch den Joint. Dionysos, zeige dich!

Majd Feddah, Benjamin Radjaipour © Julian Baumann

Das Timing des Joints hätte nicht besser sein können. Zwar folgt wieder eine Tragödie, doch mit Mitteln des Reality-TVs aufgearbeitet. Mit unserem drogeninduzierten überschwänglichen Gelächter fallen wir da nicht weiter negativ auf. Ein letztes Mal versucht das Stück eine Einheit aus Zuschauern und Schauspielern zu bilden, indem 25 Menschen aus dem Publikum auf die Bühne gebeten werden, um eine Hochzeitsgesellschaft abzubilden, inklusive Ouzo-Shots und jeder darf paffen, wie ihm beliebt. Derweil entdecke ich meinen Hintermann wieder, der schon in der ersten Stunde ein Nickerchen hingelegt hatte. Er sitzt mir nun gegenüber, auf der anderen Seite des Balkons, und hat sich wieder in die Welt der Träume verabschiedet.

Im vierten und letzten Teil des Stückes, dem „Satyrspiel“ (das seinem Namen auf jeden Fall gerecht wird), soll das Projekt atmosphärisch ausklingen. Doch es zeigt sich, dass das Publikum sich nicht hat in Trance spielen lassen, manche rutschen ungeduldig auf ihren Sitzen herum, andere versuchen ein Ende durch Klatschen herbeizuführen. Auf der Bühne entlässt uns eine aufgehende Sonne, draußen ist sie schon längst untergegangen. Am Ende des Abends bleibt die Frage, ob es dem Regisseur und den Schauspielern gelungen ist, einen kollektiven Rausch, den dionysischen Moment zu erzeugen. Das muss man leider klar verneinen. Unsere Versuche, dem Ganzen mit etwas Alkohol und THC nachzuhelfen, waren letztlich auch nur unbeholfen und eigentlich egoistisch. Schließlich sollte eben kein individueller, sondern ein kollektiver Rausch ausgelöst werden.

Es ist auch ein recht größenwahnsinniges Projekt zu hoffen, man könnte einfach mal so mit diesem Experiment Theateretikette und Sehgewohnheiten auflösen, die sich innerhalb der letzten 2000 Jahre institutionalisiert haben. Kostenloser Wein, wie bei den ursprünglichen Dionysien, hätte vielleicht geholfen. Aber allein die Räumlichkeit des Theaters, mit seinen Stuhlreihen, Platzzuweisungen und der räumlichen Trennung zwischen Zuschauer und Spielenden verhindert schon, dass sich so etwas wie eine ekstatische Masse bilden könnte. Eigentlich hat ein Techno Rave heutzutage mehr mit den klassischen dionysischen Festspielen zu tun, als jeder Theaterbesuch; vielleicht hätte man daher das ganze lieber in einem Club stattfinden lassen sollen. Whatever, es ehrt die Macher ein solches Experiment überhaupt gewagt zu haben, und ungerührt wird niemand die Kammerspiele an diesem Tag verlassen haben. Der Regisseur Christopher Rüping wollte mit dem Stück seinen Gästen Entgrenzungen anbieten. Für die meisten wird jedoch als größte Entgrenzung des Abends in Erinnerung bleiben, dass man auf einer Bühne im sonst raucherfeindlichen Bayern sich auch mal eine Zigarette anstecken durfte.

Die nächsten Aufführungen von „Dionysos Stadt“ an den Münchner Kammerspielen sind am 8. Februar um 20.00 Uhr, am 10. Februar um 12.00 Uhr, am 2. März um 13.00 Uhr und am 3. März um 12.00 Uhr. Karten gibt es hier zu kaufen.

Nils Kahnwald, Wiebke Mollenhauer © Julian Baumann

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