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Institutionen und Diskurs: Über den Umgang mit der Klimakrise

Vor fünfzig Jahren lieferte eine Studie des Club of Rome Einschätzungen zu den „Grenzen des Wachstums“. Ein Gespräch mit dem Umweltsoziologen Bernhard Gill über Krisenbewusstsein, die institutionelle Abhängigkeit vom Wachstum und den heutigen Klimadiskurs.

Im Wachstum verfangen: Wohin führt der Weg unserer Klimapolitik? ©Pat Wheelen- Unsplash

Das Gespräch führte Felix Meinert.

Wir feiern dieses Jahr das Jubiläum einer umweltpolitisch brisanten Veröffentlichung. Im Jahr 1972 wurden in einer vom „Club of Rome“ in Auftrag gegebenen Studie die Grenzen des exponentiellen Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums analysiert. Was machte die Befunde des Forschungsteams um Donella und Dennis Meadows umweltpolitisch so relevant?

Ich habe das vor fünfzig Jahren miterlebt. Die starke Rezeption hing auch mit dem Ende des „Wirtschaftswunders“ durch die Ölkrise zusammen. Das war ein gewisser Schock, ein Einschnitt. Es ist etwas ins öffentliche Bewusstsein gerückt, was man schon immer hätte wissen können: dass irgendwann der Ofen aus ist, wenn der Kohlenkeller leer ist. Ich glaube, niemand hat die Details dieses Berichts unbedingt zur Kenntnis genommen; sondern das Schlagwort „die Grenzen des Wachstums“ war einerseits völlig einleuchtend und andererseits hat das niemand wirklich geglaubt. Und heute noch trieft die Wachstumsideologie aus fast allen Poren unseres Denkens, Redens und Handelns.

Ein Einschnitt also, der auch der Krisenhaftigkeit geschuldet war. Aber wie bewerten Sie letztlich den gesellschaftlichen Einfluss der Studie?

Ich glaube, „Einfluss“ ist das falsche Wort. Es ist eher als eine Resonanz zu interpretieren. Und Resonanz hat es gegeben. Der „kurze Traum immerwährender Prosperität“, wie es Burkart Lutz (deutscher Soziologe, Anm. d. Red.) ausdrückte, war vorbei. Man hatte schon geahnt, dass das nicht ewig weitergehen konnte. Der Titel der Studie war emblematisch für das allgemeine Krisenbewusstsein, das sich breitmachte. Das hing mit der Inflation zusammen, auch mit 68: die alte Sexual- und Familienmoral, der ganze bürgerliche Kosmos war gestört. Insofern war die Umweltkrise vielleicht sogar ein willkommener Anker, eine gesellschaftliche Unruhe nach außen zu projizieren.

Bernhard Gill, Akademischer Rat am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München

Dennoch möchte kein politischer Akteur seine (potentielle) Wählerschaft mit solchen Aussichten verschrecken. Gibt es eine diskursive Koalition für einen Erhalt des Wachstumsparadigmas?

Eine „Koalition“ unterstellt zu viel Intentionalität. Es ist vielmehr institutionelle Abhängigkeit. Im Grunde ist es auch eine totale Schizophrenie. Alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann, aber die institutionellen Mechanismen der industriellen Gesellschaft scheinen aufs Wachstum angelegt zu sein.

Wir hören von Stimmen der Politik immer wieder, Klimaschutz und Wohlstandssicherung müssten zusammengedacht werden. Inwiefern verhelfen uns technologische Effizienzsteigerungen zu sogenanntem „Grünen Wachstum“?

Peter Victor (britischer Wirtschaftswissenschaftler, Anm. d. Red.) unterscheidet zwischen verschiedenen Arten des Wachstums. Schwarzes Wachstum bedeutet, dass die Umweltschäden – gemessen als Energieverbrauch oder CO2-Emissionen – schneller zunehmen als das Wirtschaftsvolumen. Braunes Wachstum wäre ein grundsätzlich entkoppeltes Wachstum, bei dem die Wirtschaftsleistung z. B. um 100% zunimmt, die Umweltzerstörung nur um 50%. Grünes Wachstum wäre eines, bei dem Wirtschaftsleistung zunimmt, und die Umweltzerstörung sinkt. 

In diesem Sinne gibt es in Deutschland kein Grünes Wachstum, nur eine Entkopplung im Sinne des Braunen Wachstums. Das hat weniger mit unseren Bemühungen im Umweltschutz zu tun als damit, dass wir als reichere Wirtschaft zunehmend in Serviceleistungen oder raffiniertere, weniger umweltbelastende Industrieprodukte investieren. Durch Umwelttechnologien haben wir zusätzliche Entkopplung. Aber diese Umwelteffizienzen werden durch Rebound aufgefressen.

Was bedeutet der „Rebound“?

Zunächst gibt es eine Effizienzsteigerung. James Watt etwa hat die Dampfmaschine effizienter gemacht. Man hat weniger Kohle gebraucht, um dieselbe Leistung zu erbringen. Aber dadurch sind die Dampfmaschinen überhaupt wirtschaftlich geworden und konnten sich ausbreiten. Rebound heißt hier, dass es im Endeffekt mehr Dampfmaschinen und mehr Kohleverbrauch gab.

Nun könnte man ja auch argumentieren, dass das Wirtschaftswachstum in seiner Einbettung in den modernen Wohlfahrtskapitalismus erst die materielle Absicherung als Voraussetzung schaffte, um postmaterielle Themen wie den Erhalt der Umwelt in den Fokus zu rücken.

Es kommt darauf an, wie Sie das sehen wollen. Bergbauern im 15. Jahrhundert erhielten z. B. auch die lokale Umwelt ihres Dorfes. Sie waren in ihrer Wirtschaftsweise unmittelbar von dieser Umwelt abhängig. Weil sie sich dessen bewusst waren, hatten sie bestimmte Mechanismen, die Natur nicht zu übernutzen. In der alten Welt setzte die Hauswirtschaft Grenzen. In der modernen Welt dachte man, man hätte durch die Erschließung neuer Kontinente usw. diese Grenzen gesprengt. Die Industriegesellschaft geht davon aus, sie könne Rohstoffe, die sie lokal verbraucht, woanders herholen.

Nochmal zurück zur Frage.

Im Industrialismus entsteht eine Phase relativ starker Sättigungseffekte. Die Leute haben materiell fast alles und werden sich als Individuen darüber klar, dass man eigentlich nicht mehr braucht. Das ist auch so eine Schizophrenie: Institutionell brauchen wir weiter Wachstum, aber die meisten Leute meinen, sie hätten genug. Viele haben eher Zeitpräferenzen. Insofern haben wir eine Art „materiellen Postmaterialismus“.

Was meinen Sie mit „materiellem Postmaterialismus“?

Dass sich diese Idee auch materiell auswirkt. Denn ansonsten ist „Postmaterialismus“ vielfach wohlfeiles Gerede der Bessergestellten. Es gibt alt-neue Distinktionskämpfe zwischen den Klassen darüber, wer ein guter Mensch ist. Der Postmaterialismus äußert sich als die feineren Manieren der Oberschicht. Plötzlich ist dann vegan Kult. Ob sich das insgesamt in einer besseren Umweltbilanz niederschlägt, kann man sehr skeptisch sehen – und das ist den Leuten, die so reden und konsumieren, auch völlig egal.

Die neue Ampel-Regierung ergänzt in ihrem Koalitionsvertrag die soziale Marktwirtschaft um das Attribut „ökologisch“: Ein Hinweis auf tiefgreifenden Reformbedarf oder nur ein kommunikatives Mittel?

Da ist die Frage: Wer wählt die Grünen? Ich glaube, das ist vor allem ein neues Bürgertum, das ich gerade versucht habe, zu beschreiben: ein empfindsames Bürgertum, das sich vor allem aus einer bestimmten Angstkommunikation und einer sehr gefühligen und kurzgreifenden Empathie generiert.

Inwiefern „Angstkommunikation“ und „kurzgreifende Empathie“?

Die Grünen geben sich gerne als Avantgarde einer emotional aufgepeitschten Öffentlichkeit: immer kurzatmige Angst und beliebig wechselnde Solidaritäten. Eine „wertegeleitete Außenpolitik“ zwingt jetzt Robert Habeck dazu, die Verlängerung von Kohle- und Atomkraftwerken zu betreiben, obwohl er eigentlich als „Klimaminister“ angetreten ist. Statt die Prioritäten genauer zu sortieren, lässt man sich von einer Katastropheninszenierung in die nächste treiben lassen. Dadurch entstehen ganz kurze Zeithorizonte. Der Klimaschutz – der ja längerfristig ist – tritt völlig in den Hintergrund. Es geht nur noch ums Überleben bis zum nächsten Tag.

Löst die Angstkommunikation, die Sie wahrnehmen, in ihrer Gegenwartsfixierung eine Art Lähmung aus, die nachhaltigem institutionellen Wandel im Wege steht?

Ja, vollständig. Ich bin ohnehin nicht überzeugt, dass ein nachhaltiger institutioneller Wandel überhaupt rechtzeitig zu bewältigen ist. Vor allem, wenn ich mir vor Augen führe, wie langsam institutioneller Wandel historisch stattgefunden hat und dass er evolutionär ist. Durch das Einschrumpfen des Wahrnehmungshorizonts wird das alles völlig unwirklich.

Ist die Rede von der „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ für Sie auch Teil der beschriebenen Kommunikation?

Dass die Koalition dieses Label verwendet, ist ja okay. Papier ist geduldig. Die Frage ist, ob sie sehr viel machen wollen und können. Das Wollen würde ich ein paar grünen Akteuren zwar zutrauen, aber sie sind professionelle Politiker*innen genug, um zu wissen, dass ihr Wollen vor allem ein rhetorisches ist. In der Gesamtkoalition wollen FDP und SPD sicher etwas anderes. Dass jetzt Klimafragen querschnittsmäßig in alle Politikbereiche gezogen werden, ist schon überraschend. Aber insgesamt bin ich äußerst skeptisch.

Wie gelangt man von der umfassenden Diskursivierung des Klimaschutzes hin zu einem Paradigmenwechsel in der politischen Praxis?

Ich weiß gar nicht, ob es eine Diskursivierung des Klimaschutzes gibt – zumal „Diskurs“ mehr meint als „Gerede“. Diskurs zielt auch auf die Schaffung von Dispositiven, also Institutionen. Und ich bin mir nicht sicher, ob das tatsächlich in Gange kommt. Generell stellt sich die Frage, was Politik und Gesellschaft können. Wir reden so, als wäre die Politik oder die Gesellschaft ein Akteur, der sich zu etwas entscheiden und diese Entscheidung rational und konsequent umsetzen könnte. Die Idee, Politikensembles – ich sag’ gar nicht Akteure – müssten etwas umsetzen, ist ohnehin eine zu intentionalistische Denkweise. 

Sie sehen also kaum Auswege?

Wenn das Klima gerettet wird, passiert das nicht in Deutschland. Das Klima ist ein globales Phänomen, und Deutschland hat 3% Anteil daran. In dem Maße, in dem die Wirtschaft im globalen Süden wächst, – was grundsätzlich gut ist – werden sich die Klimaemissionen dorthin verlagern. Hier können wir höchstens mit bestimmten Technologien oder Verhaltensanpassungen vorbildlich sein. Aber gerade Verhaltensanpassungen sind selten kulturell übertragbar. Die Entwicklung hängt eher davon ab, welche Anreize Akteure im globalen Süden haben, Klimaschutz zu betreiben.

Derzeit wird viel über den Begriff der Freiheit diskutiert. Inwiefern ist ein dichotomes Abwägen zwischen Freiheit und Pflicht, Individuum und Kollektiv im Klimadiskurs zielführend? Haben diese Unterscheidungen Geltung oder müssen wir beide Dimensionen zusammendenken?

Grundsätzlich hat eine Gesellschaft das Recht, Freiheiten einzuschränken. Wir kommen als Menschen in einer Gesellschaft zur Welt und sind von dieser Gesellschaft abhängig. Funktional stellt sich jedoch die Frage, wer steuerungsfähiger ist: eine individualistische oder eine autoritäre Gesellschaft? Ich glaube nicht, dass kollektivistische Gesellschaften mit autoritären Regierungsformen Komplexität gut handhaben können. Individualistische Gesellschaften sind durch eine gewisse Dezentralität resilienter, und können daher auch Umweltkrisen besser bewältigen: nicht in dem Sinne, dass sie die Krise verhindern können, sondern dass sie sich daran anpassen.

Was gibt Ihnen Hoffnung, wenn sie Ihre persönliche Involvierung wie auch die politische Bearbeitung des Themas reflektieren?

Hm. (atmet durch) Wenn es darum geht, man könnte und müsste die Umwelt schützen, habe ich nicht mehr allzu große Hoffnungen. Natürlich hat es lokal immer Erfolge gegeben, die wird es auch weiter geben. Aber wir haben unsere Umweltschäden durch immer abstraktere Technologien, durch immer höhere Schornsteine, so stark globalisiert, dass ich mittlerweile ziemlich illusionslos bin. Ich habe, wie die meisten Atheisten wohl auch, eine Ersatzreligion generiert: Früher war es der Umweltschutz, heute finde ich die Befassung mit Evolution sehr tröstlich. In der Evolution schafft der Tod Platz für neues Leben. Selbst wenn Homo Sapiens diese Umweltkrise nicht überlebt, gibt es noch andere Lebensformen. Durch eine evolutionäre Perspektive gewinnt man Distanz zu den weltlichen Bestrebungen. Es ist auch eine Art von ökologischer Einstellung, den Beherrschungsdrang aufzugeben – nicht nur den Drang zur Naturbeherrschung, sondern auch jenen zu technokratischer Weltenrettung.

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