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Harry Potter und das Virus

Stell dir vor, die Romane deiner Kindheit wären zu Zeiten von Corona geschrieben worden. Wie sähen sie wohl aus? Eine Annäherung.

Symbolbild

Von Thilo Schröder

Als Harry, Ron und Hermine die Große Halle betraten, nachdem sie sich die Hände desinfiziert hatten, blickte ihnen ein trauriges Dutzend Mitschüler*innen entgegen, die fast alle brav den Mindestabstand einhielten. Als sie am Tisch der Slytherins vorbeigingen, sahen sie von hinten Professor McGonagall, die auf jemanden einschimpfte, der sich offenbar weigerte, Mund und Nase zu bedecken. „Zwanzig Punkte Abzug für Slytherin, Mister Malfoy! Und jetzt stülpen Sie sich gefälligst diese Maske über!‟ Harry grinste, dann sah er hoch zum Lehrer*innentisch.

Dumbledores Stuhl war leer, wie schon am Vorabend. Soweit Harry wusste, hatte er sich geweigert, seinen Bart für einen besseren Mundschutz abzuschneiden, wie es die neuen Hygienevorgaben des Zaubereiministeriums vorschrieben. Hermine hatte die Nase gerümpft, sie missbilligte es grundsätzlich, wenn sich jemand nicht an die Regeln hielt. Neville fehlte heute auch. Er liege im Krankenflügel, erzählte Seamus, als sie sich in seiner Nähe setzten. Wie es schien, hatte Snape an Neville ein Exempel statuiert, nachdem dessen jüngster Aufsatz absolut miserabel gewesen war, und ihm einen möglichen neuen Corona-Heiltrank eingeflößt.

Elfen als Erntehelfer*innen?

Wären die Harry-Potter-Romane zu Corona-Zeiten erschienen, wäre das geschilderte Szenario gar nicht so abwegig. Denn gewiss wäre die Welt des Coming-of-Age-Zauberers eine andere. Harry hätte natürlich trotzdem kontaktlos über den Eulenweg von seiner Bestimmung erfahren. Dudley würde ihn indes kaum derart schikanieren, aus Angst, sich anzustecken. Möglicherweise wären sich Ron und Harry im Hogwartsexpress nicht begegnet, wenn nur eine Person pro Abteil erlaubt ist. Womöglich hätte Harry nie einen Besen bestiegen, denn wer will schon vor leeren Rängen ein Quidditchturnier austragen? Butterbier gäbe es mutmaßlich schon; da müssten dann die Hauselfen als Erntehelfer*innen einspringen. Was Hermine natürlich vehement anprangern und Ron nicht allzu sehr kümmern würde. Das Gedankenspiel ließe sich endlos fortsetzen.

Doch stellt sich die Frage, ob es nicht gerade der Kern fiktionaler Literatur ist, die Leser*innenschaft aus ihrer gewohnten Welt herauszureißen. Sie zu entführen an einen fremden, faszinierenden Ort, an dem Dinge jenseits des Alltäglichen auf wundersame Weise möglich sind. Würde Joanne K. Rowling also im Jahr 2020 die Feder aufs Pergament setzen, sie würde wohl eine Welt beschreiben ohne Mindestabstände, ohne Social Distancing, ohne Mundschutzmaßnahmen (von Todesser-Masken mal abgesehen). Sie würde vermutlich alles daran setzen, so detailreich und fantasievoll als möglich eine Welt zu erschaffen, die es den Menschen ermöglicht, ihrem coronageplagten Alltag zu entfliehen. Und sei es nur für ein paar Stunden.

 

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