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“Wenn Frauen nicht frei sind, dann ist niemand frei”

Seit dem Tod Jina (Mahsa) Aminis protestieren die Menschen im Iran gegen das Regime der Islamischen Republik. Beim Kampf für die Freiheit bezahlen sie teilweise mit ihrem Leben. Durch die Abschaltung des Internets im Iran sickert nur wenig Information in die Außenwelt hindurch. Um mehr Verständnis und einen Einblick in das System der Islamischen Republik zu bekommen, habe ich mit Mahtab gesprochen. Sie studiert Grundschullehramt an der LMU, kommt aus dem Iran und lebt seit einigen Jahren in Deutschland.

Der Leitspruch der Bewegung gegen das iranische Regime „Frauen, Leben, Freiheit“ war auch bei der Demonstration in München sehr präsent. Foto: Marina Schepetow

Interview von Marina Schepetow

Wie zeigt sich die Präsenz der Sittenpolizei im Iran im Alltag?

Mahtab: Ich komme aus Teheran, ich kenne das zum Großteil aus Teheran, Hauptstadt des Iran, und auf jeder großen Straße und jedem gut besuchten Platz findet man einen Minibus von Gašt-e eršād (گشت ارشاد, auf persisch: Sittenpolizei). Man weiß mittlerweile, wo man sie treffen kann oder sie sind auch mobil unterwegs und die Leute warnen sich gegenseitig, wo sich die Sittenpolizisten befinden. Immer wenn man einen Sittenpolizisten sieht, zuckt man zusammen und bekommt große Angst, weil man öffentlich verbale und körperliche Gewalt erfahren könnte. Heutzutage werden immer mehr Gewalttaten der Sittenpolizei gefilmt und in sozialen Medien hochgeladen, besonders von der iranischen Aktivistin Masih Alinejad. 

Hast du selber Vorfälle erlebt, wo die Sittenpolizei eingegriffen hat oder wurdest du selber mal „zurechtgewiesen“? 

Ja, ich wurde selber zwei Mal von der Sittenpolizei festgenommen. Beim ersten Mal war ich 15 Jahre alt. Es passierte bei meinem allerersten Date, das ich mit meinem Freund hatte, bei dem wir beide einfach nur in einem Auto saßen und geredet haben. Da kamen auf einmal zwei Sittenpolizisten und fragte nach unserer Beziehung zueinander. Wenn wir gesagt hätten, dass wir zusammen sind, hätten sie uns zu einem Mullah gebracht, der uns dann verheiratet hätte. Ich bin weggelaufen, aber mein Freund ist mit ihnen mitgekommen.

Beim zweiten Mal wurde ich auf der Straße angehalten und verhaftet, weil meine Jeans zu eng und mein Mantel zu kurz war. Auf der Wache wurden mehrere Fotos von mir gemacht, auf denen ich ein Schild hielt, auf dem stand, dass mein Verbrechen eine falsche Verschleierung sei. Im Anschluss musste ich eine Belehrung unterschreiben, dass ich gegen die Regeln der Islamischen Republik verstoßen habe und wenn dieses Verbrechen sich wiederholen würde, würde ich zu einer Geldstrafe oder zu Peitschenhieben verurteilt. Wenn dieses Verbrechen ein politisches Ziel verfolgt und für Protestaktionen von Aktivistinnen wie Masih Alinejad unternommen wurde, wäre eine Haftstrafe die Konsequenz. Um die Wache wieder verlassen zu können, musste mein Vater, Freund oder Bruder mir “passende” Klamotten bringen, damit ich wieder “normal” hinaus in die Gesellschaft gehen kann. 

Als ich vor einigen Jahren nach Deutschland kam, musste ich mich erst an die Polizei gewöhnen. Jedes Mal, wenn ich Polizist*innen sah, fasste ich mir erschrocken an den Kopf, um zu überprüfen, ob mein Kopftuch da ist und richtig sitzt, obwohl es hier nicht verpflichtend ist. Erst nach einiger Zeit verschwand diese Angst, die ich im Iran verinnerlicht hatte.

Der Mord an Jina (Mahsa) Amini löste gewaltige Proteste aus. Welche Rolle spielen die Studierenden beim Widerstand gegen die Regierung?

Zunächst einmal ist es wichtig zu erwähnen, dass geschlechtsspezifische Diskriminierung auch an Universitäten institutionalisiert ist. Frauen* können nicht alle Fächer studieren und Männer werden bei der Vergabe von Studienplätzen bevorzugt. An Universitäten gibt es vielerlei systemkritische Vereine, in denen sich Studierende engagieren und beispielsweise für Zeitschriften schreiben können, jedoch unterliegen diese staatlicher Zensur, denn nicht jede Meinung ist erwünscht. Ich war selber auch in einem dieser Vereine aktiv, konnte aber nur in einem beschränkten Rahmen mich frei äußern und handeln. 

Studierende sind dennoch vernetzt, gebildet, wach und kritisch und somit generell ein Dorn im Auge der Islamischen Republik des Iran. Es gibt ein Zitat des iranischen Machthabers Khomeini, das besagt, dass die Ursache der meisten Probleme im Iran von den Universitäten ausgeht. Der Regierung ist es deshalb wichtig, nicht nur ärmere, sozial schwache Schichten zu kontrollieren, sondern alle Schichten, auch sehr gebildete akademische Personen.

Bei den Protesten wird besonders oft der Spruch “Jin, Jiyan, Azadi” gerufen. Woher kommt dieser Spruch und was möchten die Demonstrierenden damit sagen?

“Jin, Jiyan, Azadi” ist die Parole der kurdischen Frauenbewegung, das persische Pendant dazu ist “Zan, Zendegi, Azadi” und bedeutet “Frauen, Leben, Freiheit” und ist der progressivste Spruch einer Bewegung, den ich jemals gehört habe. Jina (Mahsa) Amini war eine Kurdin aus der kurdischen Region Saqqez im Iran, wo nach ihrem Tod die Proteste begonnen und sich danach im ganzen Land und der ganzen Welt ausgebreitet haben. Dort war dieser Spruch bereits bekannt und etabliert und wurde zum Leitspruch der gesamten Bewegung gegen die iranische Regierung. Auf dem Grabstein von Jina steht: “Dein Name wird unser ‘Passwort’ sein”, also der Name der Bewegung. 

Dieser Spruch ist das genaue Gegenteil von den Werten, für die die Islamische Republik steht. Frauen, weil Frauen* als erste marginalisierte Gruppe direkt nach der islamischen Revolution von der Diskriminierung betroffen waren und dem Verschleierungsgebot unterliegen. Was man lange Zeit nicht begriffen hat und was jetzt der iranischen Gesellschaft klar geworden ist, ist, dass Frauenrechtsverletzungen Menschenrechtsverletzungen darstellen. Wenn Frauen* nicht frei sind, dann ist niemand frei. Leben ist ein weiterer Wert, der einen absoluten Gegensatz zu den Werten der Islamischen Republik darstellt, denn die Islamische Republik wirbt für das Leben nach dem Tod. Um ins Paradies zu gelangen, muss man ein gutes, dem Islam konformes Leben leben, aber was die Bewegung im Iran verlangt, ist ein ehrliches und freies Leben im Hier und Jetzt.

 Du lebst und studierst seit einiger Zeit in Deutschland und bist bei den Protesten hier vor Ort sehr aktiv. Wie nimmst du die Proteste außerhalb des Irans, vor allem in Deutschland, wahr?

Es ist unglaublich. Sowohl im Inland, als auch im Ausland: alle Iraner*innen sind vereint. Alle rufen: “Tod dem Diktator! Nieder mit der Islamischen Republik! Frauen, Leben, Freiheit!”. Die iranische Diaspora hat Großes geleistet und trotz des Internet-Shutdowns westliche Medien auf die Lage im Iran aufmerksam gemacht, einen Diskurs angestoßen und Video- und Fotomaterial aus dem Iran verbreitet.

Auch wenn ich beim Beginn der russischen Invasion in der Ukraine in meinem studentischen Umfeld und Freundeskreis größere Solidarität beobachten konnte, kann man eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Proteste im Iran beobachten. Man hat es geschafft, am 1. Oktober in über 150 Städten auf der Welt Proteste gegen die Islamische Regierung des Irans zu organisieren. 

Wie hast du die Protestbereitschaft von nicht-iranischen Menschen wahrgenommen und welche Forderungen hast du an sie?

Ich bin über die Bereitschaft zu Protest und Solidarität von Nicht-Iraner*innen sehr enttäuscht. Auf den Protesten, auf denen ich in Deutschland bisher war, haben mich viele Freund*innen begleitet und unterstützt, jedoch kann ich diese auf zwei Händen abzählen. Generell habe ich sehr wenige nicht-iranische Menschen auf den Demonstrationen gesehen. Vor allem im Vergleich zu den Demonstrationen gegen den Krieg in der Ukraine waren es deutlich weniger Nicht-Iraner*innen auf den Kundgebungen für Freiheit und Menschenrechte im Iran. Ich persönlich habe teilweise erst nach Wochen von meinen deutschen Freund*innen und Bekannten unterstützende und solidarische Nachrichten bekommen, worüber ich mich sehr freute, aber auch zugleich enttäuscht war, warum mehrere Wochen lang im Iran Menschen bei den Protesten sterben mussten, bis die Menschen hier darauf aufmerksam wurden. 

Das ist die erste soziale, von Frauen* geführte Bewegung im Nahen Osten nach langer Zeit, die einen globalen Maßstab erreicht hat. Das müsste viel mehr Aufmerksamkeit bekommen! Man sagt gerne, dass Freiheit ein westlicher Wert sei, aber das ist falsch. Freiheit ist universell. Man sagt gerne, dass Ukrainer*innen in der Ukraine für die Freiheit weltweit kämpfen, aber das tun wir im Iran auch. Wo ist eure Unterstützung?  

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