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Wie weit darf Protest kleben?

An der LMU wird ein Hörsaal besetzt, die Letzte Generation klebt sich auf den Straßen fest, Just Stop Oil wirft mit Tomatensuppe: diese Radikalisierung von Teilen der Klimagerechtigkeitsbewegung stößt mittlerweile selbst in den eigenen Reihen auf Unverständnis. Allerdings sind die  öffentlichen Reaktionen darauf meist weder rational noch fundiert. Über klebrige Körper in Handschellen, Sonnenblumen mit Tomatensoße und mediales Versagen. 

Das ‚Toolkit‘ einer Klimaaktivistin: Tomatensuppe und Uhu-Kleber. Foto: Jonathan Viehweger.

Von Pauline May und Benjamin Viehweger.

Igor Levit hat es am schönsten formuliert: „Wenn Du etwas Schönes bewahren willst, warum verletzt / zerstörst Du etwas Schönes? Wem wird geholfen? Die Kausalität will mir nicht in den Kopf.“ So kommentiert der Pianist auf Twitter die Tomatensuppenattacke zweier Klimaaktivist*innen von Just Stop Oil auf van Goghs Sonnenblumen in der Londoner National Gallery. Seine Kritik mag zunächst logisch klingen und exemplarisch für die intuitive Haltung der meisten Menschen gegenüber der Protestaktion stehen. Allerdings muss angemerkt werden: Sie geht über eine rein ästhetische Dimension nicht hinaus. Denn tatsächlich wurde, wie auch bei einer ähnlichen Protestaktion in Potsdam, kein Gemälde beschädigt oder gar zerstört – sondern nur die Scheibe davor. Vielmehr simulieren die Klimaaktivist*innen die Zerstörung von Kunst. Und das hat ja auf absurde Art und Weise schon etwas Ästhetisches, wenn nicht gar Künstlerisches: Tomatensuppe, rot wie Blut, die in der ökologischen Krise auf Sonnenblumen klatscht. Warum löst diese Form des Protests nur so viel Widerstand aus? 

Mit Kunst spielt man nicht!

Vor allem wird dieser Protest wohl missverstanden – als Angriff auf die Kunst. Und Kunst scheint vielen von uns geradezu heilig.  Wahr ist allerdings auch:  Ein Zivilisationszustand, aus dem heraus man überhaupt erst Kunst betrachten kann, geht mit dem Fortschreiten der Klimakrise nach und nach verloren. Schon heute werden erste Ausmaße der Klimakatastrophe sichtbar, gerade im globalen Süden. So starben bei großflächigen Fluten in Pakistan über einen Zeitraum von vier Monaten 1.700 Menschen. Laut dem Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) werden sich Fluten in diesem Ausmaß künftig mehren, Dürren werden den Alltag von Millionen Menschen prägen, Krankheiten wie das Dengue-Fieber sich auch auf dem europäischen Kontinent verbreiten. Schon im Jahr 2041 wird laut IPCC-Bericht eine ausreichende Trinkwasserversorgung nicht mehr für alle Menschen in Europa gewährleistet sein. Sollte die Klimakrise ungehemmt weitergehen, werden bis zum Jahr 2100 74 Prozent der Weltbevölkerung regelmäßig potenziell tödlichen Hitzewellen ausgesetzt sein, prognostizieren Wissenschaftler*innen der University of Hawaii. Es ist ein absurder Zustand, dass angesichts dieser Prognosen selbst einfachste Maßnahmen wie ein Tempolimit nicht etabliert werden. Mit Kunst und Kartoffelbrei spielt man nicht – mit unserer Zukunft schon.  

Wer diesen Gesamtzustand betrachtet, der versteht wohl nicht nur die Tomatensuppenattacken. Auch das Bedürfnis der Klimaaktivist*innen der Letzten Generation, sich auf die Straße zu kleben und den Verkehr zu blockieren, wird nachvollziehbar. Diese Blockaden sind nicht unkritisch zu sehen. Aus einer sozialen Perspektive heraus wird kritisiert, dass unter dieser Form zivilen Widerstands die falschen Personen litten: Menschen auf dem Weg zur Arbeit, Familien auf dem Weg zum Kindergarten. Währenddessen blieben Politik und Industrie unangetastet. Obgleich die Letzte Generation immer wieder in Interviews  betont, nicht individuelle Konsumkritik üben zu wollen, sondern vor allem politische Veränderungen zu fordern, beispielsweise die Wiedereinführung des Neun-Euro-Tickets und ein Tempolimit. 

Unschuldige Schuldige? 

Diese Woche besetzten die Aktivist*innen der Gruppe UniBesetzenMuc den Hörsaal A240 im Hauptgebäude der LMU München. Foto: Balthasar Zehetmair

Ein weiterer oft bemühter Kritikpunkt ist, dass durch die Blockaden der Letzten Generation  potenziell gefährliche Verzögerungen bei Einsatzfahrten entstehen könnten. Gerade im Zusammenhang mit einer in Berlin von einem Betonmischer überfahrenen Radfahrerin dominierte diese Haltung den Diskurs. Die Letzte Generation wurde von der Öffentlichkeit für den Tod der Radfahrerin verantwortlich gemacht – auch wenn umstritten ist, ob das aufgrund einer Straßenblockade verspätete Spezialfahrzeug der Feuerwehr überhaupt zum Einsatz gekommen wäre. Die zuständige Notärztin etwa entlastete die Klimaaktivist*innen.

Dass zukünftig Klimaaktivist*innen für potenziell gefährliche Verzögerungen des Rettungsdienstes verantwortlich sein werden, ist nicht auszuschließen. Doch auch vonseiten der Aktivist*innen werden Vorkehrungen getroffen, um solchen Situationen vorzubeugen: die Letzte Generation kündigt grundsätzlich ihre Blockaden gegenüber der Polizei an. Außerdem wird von Seiten der Pressesprecher*innen immer wieder der Aktionskonsens kommuniziert, Blockaden möglichst schnell zu beenden, sollten Rettungsfahrzeuge passieren müssen. Potenziell gefährliche, vermeidbare Verzögerungen entstehen in Deutschland zudem täglich durch behördlich nicht verfolgtes Falschparken,Dauerbaustellen mit unzureichender Verkehrsumleitung  oder unangekündigte Bauarbeiten. Über die Legitimation dieser Verzögerungen wird allerdings selten reflektiert, wohingegen der zivile Ungehorsam der Letzten Generation ständig angezweifelt wird, die Klimaaktivist*innen als „Klimaterroristen“ und „Klima-RAF“ bezeichnet werden. Auch einige Medienschaffende beteiligen sich mit oberflächlichen Texten an der Kriminalisierung von Klimaaktivist*innen. Damit spielen sie dem  bayerischen Staat in die Hände, der mithilfe des Polizeiaufgabengesetzes (PAG) Klimaaktivist*innen ohne Prozess wochenlang ins Gefängnis steckt – eine Maßnahme, die nach Ansicht mancher Rechtsexpert*innen nicht verfassungskonform ist. 

Die Rolle der Politik

Währenddessen werden von der deutschen Politik Verkehrstote jeden Tag in Kauf genommen, weil Geld lieber in Subventionen für Flugzeugkerosin als in klimagerechte Verkehrspolitik investiert wird. Verkehrsminister Wissing macht „Realpolitik”, indem er eine Welt für Autos verwaltet. So verteidigt der Minister den Bau neuer Autobahnen, stellt sich gegen ein Tempolimit und erklärt im Gespräch mit dem Bund Naturschutz, er halte es für eine Utopie, ÖPNV auf dem Land in einer solchen Taktung anbieten zu können, dass gänzlich auf Individualverkehr verzichtet werden könne.

Wer nun angesichts dieser Situation von der Klimabewegung andere Methoden fordert, der sollte sich bewusst machen: Lange hat man auf andere, moderatere Methoden des Protests gesetzt. Die Klimabewegung kommunizierte auf sehr zivilisierte Art und Weise bei Demonstrationen und Podiumsdiskussionen zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse: Polareis schmilzt, Meeresspiegel steigt, Kipppunkte, aktuelle Katastrophen, wie die Flut in Pakistan, oder die Überschwemmungen im Ahrtal. Nur leider ist diese Erklärbär-Taktik nicht aufgegangen: Trotz der Masse an Informationen wurde keinesfalls in ausreichendem Maß gehandelt, um das Klima und damit die Menschheit zu schützen. Eine Radikalisierung des Protests ist demnach als logische Konsequenz zu betrachten. 

Verschiedene Zustände legitimieren verschiedene Formen des Protests, der Klimanotstand unserer Ansicht nach auch die unangenehmen, inklusive des zivilen Ungehorsams.  Dementsprechend gilt es, die Versammlungsfreiheit zu schützen. Im Jahr 1985 berief sich das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf das Verbot einer Großdemonstration gegen das Kernkraftwerk Brokdorf auf eine Äußerung des Staatsrechtlers Konrad Hesse, wonach Versammlungen „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie” enthalten. Vielleicht braucht es genau diese unmittelbare Demokratie und ein paar Konservendosen, um Prozesse des Konservierens anzustoßen.

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