Kulturphilter

„Ey samma, kann das sein?“ – Eine Rezension des Stückes Bahnwärter Thiel im Bahnwärter Thiel

Es geht um Liebe, Religion, Hunde und Social Media. Kurz: Was einen so beschäftigt, wenn man mit dem Smartphone in der Hand geboren wird. Es geht um Thiel, der nicht Bahnwärter, sondern Pförtner des mächtigen Social-Media-Konzerns Cocogram ist. Auf humorvolle Art und Weise arbeitet das Stück Influencer-Klischees, den Mythos „nachhaltiger Kapitalismus“ und Glaubenssätze, die einem täglich online begegnen, auf.

Bahnwärter Thiel bei seiner Arbeit als Pförtner – Bild: Katharina Öttl (Online Kommunikation und Social Media des Volkstheaters München)

Von Jasmin Shokoui.

Die Luft ist noch lauwarm, als die Schauspieler*innen sich in kreativen Kostümen unter das herumstehende Publikum mischen. „Willkommen zur Ausstellung über Bahnwärter Thiel“, begrüßt eine Schauspielerin die Menge. Nachdem sie die Handlung der Originalversion nach Gerhard Hauptmann kurz rezitiert, wird die Truppe aufgeteilt. Dabei entsteht ein buntes Chaos, aber bald haben alle ihre Gruppe gefunden und die Führung durch die interaktive Ausstellung kann beginnen. Wir laufen durch das verwinkelte Gelände der Kulturwerkstätte Bahnwärter Thiel und kommen an der ersten Station an. Ein junger Museumsführer leitet uns von Station zu Station und kommentiert das Geschehen. In seiner Rolle personifiziert er die vierte Wand und vermittelt gekonnt zwischen Schauspieler*innen und Publikum.

Social Media oder Reality? Ein Clash der Welten

Nach einer kurzen Tour über das Club-Gelände, kommen wir am Standort der ersten Szene an. Influencerinnen schieben eine schwere Couch in den Raum und beginnen dort TikTok-Tänze aufzunehmen. Nach ihrer kurzen Performance bricht ein Streit vom Zaun: Wie genau war die Reihenfolge der komplexen Choreografie noch einmal? Schnell wird es persönlich und man merkt, soziale Anerkennung hängt in dieser Welt von der Anzahl der Follower*innen und Likes des Social-Media-Accounts ab. Es geht um Produktplatzierungen, oberflächliche Selbstdarstellung, Kapitalismus, und Schönheitsoperationen unter dem Deckmantel Nachhaltigkeit, Natürlichkeit und Female Empowerment. Das Publikum ist amüsiert und geschockt gleichzeitig.

Atmosphäre zu Beginn des Stücks – Bild: Katharina Öttl (Online Kommunikation und Social Media des Volkstheaters München)

Wir ziehen weiter und begegnen Minna und Thiel auf einem romantischen Date mit ihrem Hund Tobi. Um den Hund mit in die Gondel nehmen zu dürfen, muss Minna den Gondelbetreiber bestechen. Dann können die zwei die schöne Aussicht ja jetzt genießen, oder? Kurz nachdem die Gondel vom Boden abhebt, entsteht ein Streit. Minna hat Thiel einen Social-Media-freien Tag versprochen. Doch jetzt zückt sie ihr Handy und will ein Foto von den beiden machen. Thiel ist sauer. Er schlägt ihr vor, den Moment zu dokumentieren, indem sie ihn bewusst wahrnimmt. Am Ende können die Zuschauer*innen selbst für sich entscheiden: Hält man schöne Momente fest, indem man sie bewusst durchlebt oder indem man sie photographisch dokumentiert? 

In der nächsten Station begegnen wir Thiel an seinem Arbeitsplatz. Als einziger Pförtner bei Cocogram sucht er dringend Verstärkung. Wenn ihm langweilig wird, lernt der gemütliche Einzelgänger Flöte. Er möchte seiner frischen Ex-Freundin Minna ein Lied komponieren. Außerdem versucht er sich an einem Liebesbrief an Minna. Wenn das mit dem Schreiben aber gerade schwierig ist, schraubt er auch gerne an seiner Modelleisenbahn rum.

Spiegel, Spiegel an der Wand. Endlich lernen wir Lenny, Thiels neuen Partner, kennen. In einer Auseinandersetzung mit seinem Spiegelbild berichtet er uns vom Leistungsdruck, dem er auf Social Media ausgesetzt ist. Seine Mantras? Er möchte kreativ und leidenschaftlich sein, gut tanzen können und fünf Millionen Follower auf Cocogram gewinnen. Auf dieser Mission vertraut er auf guten Content, die Hilfe des Universums, seine Crystals (Kristalle) und vor allem seiner Diät. In die positiven Affirmationen schleichen sich immer wieder Glaubenssätze wie „Ich bin ein niemand“. Er fühlt sich nicht wohl in seinem Körper und schämt sich für seinen mittelmäßigen Erfolg auf Social Media. Allem voran steht nicht die Frage „Was kann ich tun, damit es mir besser geht?“, sondern wie er mehr Leistung in den sozialen Medien durch Follower*innen und Likes erreichen kann. Ob er Body-Positivity-Influencer werden soll?

Wir lassen Lenny mit seinen Gedanken allein und ziehen weiter in ein Café. Vor dem Café steht Thiel, in sein Gebet vertieft. Innen wartet Minna nervös auf Thiel. Als Thiel endlich kommt, ist die Stimmung gespannt. Zwei ältere Menschen an einem benachbarten Tisch und beobachten die Szene aufgeregt, während sie Popcorn snacken. Thiel ist komisch und Minna möchte endlich wissen, was los ist. Hat er sie betrogen? Nach unzähligen Unterbrechungen rückt Thiel endlich raus mit der Sprache. „Ich bin schwul!“, bricht es endlich aus ihm heraus. Aufgebracht verlässt Thiel die Szene.

Digitale neue Welt

Während Minna noch ihre Tränen trocknet, besuchen wir Thiels Stammkirche. Thiel ist nicht katholisch, sondern ein engagiertes Mitglied einer New-Age-Sekte. Als der Homo-Dea-Dienst beginnt, singen wir gemeinsam und stellen uns die Frage: „Ey samma, kann das sein?“. Danach beten wir an Homo Dea, die uns Menschen programmiert hat, „Omen“. Ein Redner tritt in den Vordergrund und liest aus der heiligen Zeitschrift. Er stellt die Frage: „Are you living in a computer simulation?“ Man solle doch dem Betkreis „bitkreis“ im gemeindeeigenen VR-Room beitreten und der Sekte auf Cocogram folgen.

Thiel betet an Homo Dea – Bild: Katharina Öttl (Online Kommunikation und Social Media des Volkstheaters München)

Nach dem Homo-Dea-Dienst finden wir uns auf einer Party der Social-Media-Plattform Cocogram wieder. Nachdem die Gäste der Feier im Gleichschritt zur Musik tanzen, betritt die Gastgeberin Charlotte, Coco, die Bühne. Unter dem Motto „Girlboss“ berichtet sie davon, wie sie die Plattform ohne die finanzielle Unterstützung ihrer sehr wohlhabenden Eltern gegründet hat. Sie spricht einenToast auf aufstrebende Inspiration und Monetarisierung aus und verlässt das Spotlight.

Der Blickwinkel schwenkt zu Thiel, der seinen Freund Lenny dazu auffordert nach Hause zu gehen. Lenny hat allerdings noch große Pläne für den Abend. Er schnappt sich Thiels Hund Tobi und ein Mikrofon und macht ihm nach einer Rede mit vielen Worten und wenig Inhalt einen Heiratsantrag. Kaum hat Lenny es ausgesprochen, rennt Tobi hinaus. Schnell sprintet Thiel ihm hinterher, doch man hört nur noch, wie Tobi von einem Zug erfasst wird. Traumatisiert betritt Thiel wieder die Tanzfläche und spricht mit Homo Dea. Sie solle doch bitte das, was eben geschehen ist, ungeschehen machen und anstatt dessen alle Influencer verschwinden lassen. Es blitzt und donnert und auf einmal ist der Raum leer. Verwirrt strauchelt ein Hund hinein. Tobi? Ey samma, kann das sein? „Wuff“.

Resumee

Bahnwärter Thiel, aber neu, jung und auf die Probleme einer neuen Generation bezogen. Das hat sich der Jugendklub des Münchner Volkstheaters „Writers Room*“ vorgenommen. Thiel stellt dabei einen skeptischen Einsiedler dar, der sich von wenig beeindrucken lässt, während alle um ihn herum komplett von der neuen digitalen Welt eingenommen sind. Die Präsenz auf Social Media bekommt plötzlich einen höheren Stellenwert für seine Mitmenschen als das echte Leben.

Ein Stück, das zum Nachdenken anregt und auf humorvolle Weise den eigenen Umgang mit neuen Technologien reflektieren lässt. Auf skurrile Art und Weise wird einem an jeder Station der Ausstellung durch das Leben des Pförtners Thiel bewusster wie ambivalent und wie erschreckend realitätsnah die skizzierte Welt ist. Wer Lust auf großartiges Schauspiel in passendem Ambiente hat, kann das Stück noch am 23., 29. und 30. Mai im Bahnwärter Thiel anschauen.

Tickets gibt es hier: https://www.muenchner-volkstheater.de/programm/schauspiel/bahnwaerter-thiel-im-bahnwaerter-thiel 

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