Rezension

Über Grenzen

„Pushing Boundaries“, ein Film der Ukrainerin Lesia Kordonets gewinnt auf dem diesjährigen Dok.fest in München den Megaherz Student Award 2022. Ein berührender und wichtiger Film, der Menschen in Extremsituationen folgt.  

Die Protagonisten in Kordonets Film trainieren trotz erschwerter Bedingungen weiter für die Olympischen Spiele. Foto: Screenshot aus Pushing Boundaries

Von Julia Stanton

Während im russischen Sotschi 2014 die Paralympischen Winterspiele unter dem Motto „Pushing Boundaries“ stattfanden, annektierte die Russische Föderation die ukrainische Halbinsel Krim. Die Sportler*innen verloren dadurch ihre hochmoderne Trainingsanlage.

Lesia Kordonets Dokumentarfilm „Pushing Boundaries“, der seinen Titel vom olympischen Motto übernimmt, folgt fünf ukrainischen Sportler*innen kurz nach der Annexion, während diese sich unter veränderten Bedingungen für die Paralympiade in Rio vorbereiten: Roman, Angelika, Anton, Alla und dem Funktionär Valeriy Sushkevych.

Kordonets Film, der auf dem diesjährigen Dok.fest in München seine Deutschlandpremiere feiert, ist der Gewinner des Megaherz Student Award 2022: „PUSHING BOUNDARIES, das heißt Grenzen verschieben, Grenzen erweitern. Die sensible Montage verschiebt ebenfalls Grenzen und zeigt uns, dass es keine behinderten Menschen gibt – sondern nur Menschen, die behindert werden […]. Es geht im Dokumentarfilm auch darum, unbequeme Wahrheiten anzusprechen […], aber PUSHING BOUNDARIES ist nicht nur in dieser Hinsicht ein bedeutender Film.“, so die Begründung der Jury.

Grenzgänge

„Pushing Boundaries“ ist tatsächlich ein sehr bezeichnender und treffender Titel, denn Grenzen spielen im gesamten Film eine zentrale Rolle. Die Sportler*innen gehen an ihre körperlichen Grenzen und reizen diese aus, während zur gleichen Zeit die Grenze ihres Landes aufgehoben wird und das Unmöglich geglaubte möglich wird. Der Film zeigt auch, wie plötzlich Grenzen das Leben der Protagonist*innen bestimmen: Angelika, eine Volleyballspielerin, die auf der Krim lebt, ist nun Ausländerin in ihrer Heimat und muss, um zum neuen Trainingslager in Dnipro zu kommen, täglich die Grenze überqueren. Roman aus der Donbass Region ist einer von 1,4 Millionen Inlandsflüchtlingen und lässt seine Familie zurück, um für die Paralympischen Spiele zu trainieren. Ebenso thematisiert der Film ideologische Grenzen, die sich nach der Annexion zwischen Freund*innen und Familie auftun.

Aber auch der Film selbst spielt mit Grenzen und lotet diese aus. So wird beispielsweise immer wieder deutlich, wie verschwommen die Grenzen zwischen Sport und Politik letztlich sind. Bei den Europameisterschaften im Volleyball in Slowenien trifft die ukrainische Mannschaft auf die russische: „Den 1. Satz widmen wir Angelikas Grenzgängen zu Fuß. Auf das die Grenzen verschwinden.“, motiviert sich das Team.

Eintauchen in den Alltag 

In „Pushing Boundaries“ geht es aber nicht primär um Sport, sondern vielmehr um das persönliche Leben und die Erfahrungen der Sportler*innen. Um wirklich in deren Alltag einzutauchen, hat Kordonets mit jedem Protagonisten circa zwei Monate verbracht. Sich diese Zeit zu nehmen, war ihr wichtig: „Dadurch gewinnt man Vertrauen und bekommt die Nähe“. Die Möglichkeit andere Realitäten kennenzulernen, ist auch das, was sie besonders an ihrer Arbeit schätzt: „Ich finde generell schön am Dokumentarfilm, dass man ein fremdes Leben leben kann und zwar wirklich leben; dass man aus seiner Bubble rauskommt.“, erklärt sie im Interview.

Kordonets hat eine ruhige, angenehme Art und redet bedacht und mit leiser Stimme über ihr Projekt. Sie trägt passenderweise eine Jacke mit dem Aufdruck des paralympischen Teams.

Die heute 38-jährige ist selbst in der Ukraine aufgewachsen und hat dort neben ihrem Germanistikstudium die Theodor-Heuss Kolleg Ausbildung gemacht (Förderung demokratischer Verantwortung und öffentlichen Engagements in Osteuropa). Dort entdeckt sie das Medium Film. Ohne große Erwartungen bewirbt sie sich schließlich an der Hochschule der Kunst in Zürich (ZHdK) – Mit Erfolg.

Ein herausfordernder Dreh 

„Pushing Boundaries“ ist das Projekt mit dem Kordonets 2014 ihre Zulassung für den Masterstudiengang an der ZHdK erhält. Von der Idee bis zur Fertigstellung des Films vergehen sechs Jahre. Die Dreharbeiten fanden 2015, 2016 statt. Danach beginnt  Kordonets mit dem Schnitt. Da es sich um eine Studienprojekt handelt, steht ihr kein grosses Budget zur Verfügung. Die wenigen finanziellen Mittel führen dazu, dass Kordonets viele Aufgaben während dem Dreh und in der Postproduktion selbst übernimmt: „Das war auch ganz gut, weil man viel lernt, aber es dauert eben auch länger.“

Zu den herausforderndsten Momenten gehören vor allem die Dreharbeiten auf der Krim: “Die Züge wurden stillgelegt, es gab kein Roaming auf der Krim, weder schweizer noch ukrainische SIM – Karten funktionierten, Geldüberweisungen konnte man wegen der Sanktionen auch nicht tätigen. Man musste schauen, dass man mit seinem Cash auskommt, dass man auch nur limitiert über die Grenze mitnehmen konnte.”

Mehr Aufmerksamkeit schaffen

Der Megaherz Student Award wird Lesia Kordonets (links) am 14.05 im Deutschen Theater von den zwei Jurymitgliedern Marie Wald und Camillo Berstechner Barrero überreicht. Foto: Dok.fest München

Diese Neugier wird jetzt belohnt: Am Samstag, den 14.05.2022, erhält Lesia Kordonets im Deutschen Theater in München den Megaherz Student Award des Dok.fests München. „Pushing Boundaries“ hat sich gegen neun andere nominierte Filme durchgesetzt: „Wir haben es gar nicht einfach gehabt, aber am Ende waren wir uns einig.“, erklärt Jury Mitglied Camillo Berstechner Barrero bei der Preisverleihung. Kordonets nimmt das Preisgeld und einen Blumenstrauß unter Applaus und sichtlich gerührt entgegen.

Was sie sich von dem Preis erhofft? Mehr Aufmerksamkeit für die Probleme in der Ukraine zu schaffen: „Wenn das erreicht wird, dann habe ich meine Aufgabe erfüllt.“ Sie führt weiter aus: „Ich habe das Gefühl die Annexion der Krim wurde im Westen unterschätzt, während es für uns die Büchse der Pandora war, die damals geöffnet wurde.“

2022: Ein Déjà-Vu 

Der Film feierte seine Premiere schon 2021 auf dem Festival du Réel in Nyon in der Schweiz, also vor dem Krieg. Durch die aktuellen politischen Entwicklungen gewinnt der Film allerdings noch zusätzliche Relevanz und Dringlichkeit.

Die Sportler*innen erleben momentan ein Déjà-vu der damaligen Situation: Russland erklärt der Ukraine erneut während der Paralympischen Winterspiele – diesmal in Peking 2022 – den Krieg. Kordonets ist mit allen Protagonisten des Films in Kontakt und bestätigt, dass sie alle noch leben.

Einen weiteren Film über deren Leben möchte Kordonets dennoch nicht drehen: „Ich glaube, in so einer existentiellen Situation ist eine Kamerapräsenz nicht das, was sie brauchen. Ich versuche ihnen das Gefühl zu geben, dass ich da bin, wenn auch nur online. Und dass ich ihnen jederzeit zur Verfügung stehe, wenn sie Hilfe brauchen.“

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...