Miguel de la Riva und Okihito Utamura sprachen mit dem Kulturwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker Philipp Felsch über sein neues Buch Der lange Sommer der Theorie.
Der Gegenstand Ihres Buches ist die Begeisterung für Theorie, also der Gattung schwieriger Texte von Autoren wie Adorno, Foucault oder Luhmann. Sie beginnen Ihr Buch mit der Schilderung Ihres eigenen Theorie-Erlebnisses. Wie kam es dazu?
In den 90er Jahren begegnete ich als Austauschstudent in Bologna dem Historiker Valerio Marchetti. Er beeindruckte mich nicht nur durch seine Rhetorik, die er, wie ich später auf YouTube sah, von Foucault übernommen hatte, den er in den 80ern am Collège de France hörte. Marchetti faszinierte mich auch durch seinen Unterricht im Stil der foucaultschen, stark theoretisch informierten Geschichtsschreibung. Er gab ein Seminar zum Hermaphrodismus im barocken Frankreich. An deutschen Universitäten hatte ich von einem vergleichbaren Thema nie gehört. Die Seminarlektüren entführten mich dann in das Gebiet der Theorie. Ich begann mit Begeisterung und großer Intensität insbesondere Foucault zu lesen.
Wie hat sich diese Begeisterung geäußert?
Es war wie ein empowerment. Foucault ist ja so wunderbar anwendbar. Ich hatte das Gefühl, mit Foucault einen Schlüssel zu besitzen – sowohl, um meine Studienfächer Geschichte und Philosophie zu verbinden, aber auch, um als Historiker einen Zugang zum Material zu finden, der die Aktualität, die Gegenwart berührt, mit dem man irgendwie auch politisch sein konnte. Es waren die ersten Arbeiten, die mich wirklich begeistert und überzeugt haben. Bis zu meiner Magisterarbeit blieb ich ein in der Wolle gefärbter Foucaultianer.
Was genau hat sie an Foucault fasziniert? War das ein bestimmter inhaltlicher Punkt, oder der Stil seiner Texte?
Nein, da spielten verschiedene Ebenen zusammen, die sich nicht voneinander isolieren lassen, und das ist typisch für das Genre „Theorie“. Da ist zum einen der hohe ästhetische Anspruch dieser Texte. Foucault ist ein poetisch, ästhetisch anziehend schreibender Autor. Dann ist da der Duktus der Gelehrsamkeit. Mich beeindruckte sehr, wie Foucault in seiner Ordnung der Dinge obskure, vielbändige naturhistorische Traktate aus dem 16. Jahrhundert zitiert. Schließlich verdichten sich seine Texte in eine existentielle Betroffenheit. Foucaults Texte sprachen mich unmittelbar in meiner Lebenssituation an, was Texte der philosophischen Tradition, die ich bis dahin gelesen hatte, ungleich weniger taten. Diese Momente – das Akademische, das Literarische, das Existenzielle – versuche ich zusammenzuführen, wenn ich von Theorie als „Wahrheitsanspruch, Glaubensartikel und Lebensstil“ spreche. So fasse ich die Charakteristika eines Genres, das nicht nur mich, sondern auch Generationen vor mir für sich einnahm.
Und nun haben Sie mit Ihrem Buch dieses Erlebnis aufgearbeitet?
Ja, mit meinem Buch habe ich gewissermaßen die Vorgeschichte meines Erlebnisses geschrieben. Während solcher Erfahrungen legt man sich keine weitere Rechenschaft über sie ab, sie entfalten eine starke Selbstevidenz. Doch als ich diese Texte zehn Jahre später wieder zur Hand nahm, erwachte in mir das Bedürfnis zu verstehen, woher diese Intensität und Begeisterung rührte. Mir wurde schnell klar, dass ich dazu historisch zurückgehen muss. Ich hatte damals ein Erlebnis, das Energien mobilisiert und aufgezehrt hat, die viel früher akkumuliert wurden.