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Mit der Minima Moralia in der Jackentasche

Abschied aus der Politik und Suche nach dem Politischen: Wie Theorieleser zu exklusiven Eliten wurden

Nachdem das sozialistische Verlagskollektiv gescheitert ist, scheint sich Merve Ende der 70er Jahre neu aufzustellen. Nun erscheinen vermehrt französische Autoren wie Foucault oder Texte wie Rhizom (1977) von Deleuze und Guattari, der bis heute erfolgreichste Merve-Titel. Was hat diese Autoren so attraktiv gemacht?

Die Entdeckung der damals in der BRD noch weitgehend unbekannten französischen Poststrukturalisten begründete Merves Erfolg. Das war ihr entscheidender, auch strategisch kluger Schachzug. Zwar lagen einzelne Autoren wie Derrida oder Foucault schon bei Suhrkamp übersetzt vor und standen im Ruf eines Geheimtipps. Aber in der Westberliner Szene der Antiautoritären und Spontis, damals die Zielgruppe des Merve-Verlags, wurden sie erst Mitte der 70er interessant. Und da wurde nicht Die Ordnung der Dinge gelesen, sondern Foucaults jüngere Texte über Gefängnis, Wahnsinn, Sexualität. An diesen Texten war Merve früh dran. Das liegt auch an Gentes neuer Lebensgefährtin Heidi Paris, die Mitte der 70er in den Verlag eintrat. Sie lernte Foucault schon 1973 an der Freien Universität in einer Übung bei Henning Ritter kennen, der ebenfalls bei Taubes Hilfskraft war. Für Merve waren diese Autoren aus Frankreich anziehend, weil sie neue, radikale Alternativen formulieren, jenseits des dialektischen Marxismus. Nach dem Krieg waren die französischen Theoretiker die besten Marxisten der westlichen Hemisphäre . Viele Professoren und Studierende an der École Normale in Paris waren Mitglieder der Parti communiste français. Doch entsetzt von dem offensichtlicher werdenden Grauen der Sowjetunion und enttäuscht vom ausbleibenden Umsturz wandten sie sich vom Marxismus ab. Vom Glauben abgefallen, agierten sie als Renegaten die Symptome einer enttäuschten Liebe aus. Nirgendwo gab es schlauere und schärfere Marxismuskritiker. Damit rennen sie beim Merve-Kollektiv offene Türen ein, das sich Mitte der 70er in der beschriebenen Situation der Ermattung, Erschöpfung und Enttäuschung befindet. Die Kritik der Franzosen und ihre radikalen Alternativen sprechen die Büchermacher an und verändern ihr Selbstverständnis als Kollektiv, als Intellektuelle und Lesende.

Wie beeinflussen die französischen Autoren Merves Selbstverständnis?

Das marxistische, revolutionäre Projekt der 68er war von einer Stufenleiter von Repräsentationen geprägt. Die Intellektuellen repräsentieren als voranmarschierende Avantgarde die Partei, die Partei das Proletariat, das Proletariat die Menschheit usw. An dieser Idee von Repräsentation formulieren die neuen Franzosen nun eine radikale Kritik. In den 70ern ist dabei weniger die theoretische Kritik am Zeichen entscheidend, für die der Poststrukturalismus im Allgemeinen bekannt ist. Dass Signifikanten nicht unbedingt auf Realität verweisen, ist nur ein Moment. Wichtiger ist die politische Dimension: Nunmehr gilt es als Anmaßung und Machtstrategie, im Namen anderer sprechen zu wollen und sich als deren Vorreiter aufzuspielen. Man will niemandem mehr etwas erklären, niemanden mehr erziehen. Stattdessen sieht man eine neue Form des Politischen in der Suche nach „Intensität“, dem Gegenbegriff zu „Repräsentation“, wie es Deleuze und Guattari als Programm in Rhizom ausgegeben haben. Merves Lektüren und Texte sollen nun der Erfahrung von Intensität, von Momenten plötzlicher, rauschhafter Entladung von Energie dienen. Dies öffnet dem Hedonismus Tür und Tor. So verstanden führt die Suche nach dem Politischen nämlich auch ins Schöneberger Nachtleben. Die plötzliche, rauschhafte Entladung von Energie wurde zwar als hochpolitisch angesehen, denn an ihr haftet etwas Anomisches, etwas von punktueller Revolte. All dies bedeutete aber auch einen Rückzug aus den offiziellen Foren der Politik, aus der Sache der Weltrevolution. Das neue Selbstverständnis führt darum auch zu einer nachhaltigen Entpolitisierung.DSC_0144

Nach dem Tod Foucaults 1984 bewegt sich der Verlag zunehmend in die Richtung von Kunst, Musik und Fotografie. Nun finden auch Bildbände und bibliophile Hardcover ihren Weg ins Verlagsprogramm. Wie kam es dazu?

Dieser neue, kunstaffine Theorie-Stil speist sich ebenfalls aus der Kritik der Repräsentation. Intellektuelle und Theorieleser verstehen sich nun nicht mehr als voranmarschierende Avantgarde, als Repräsentanten einer größeren, nachfolgenden Bewegung. Stattdessen wird Theorie in den 80ern elitär, spielt sich zunehmend in Gruppen ab, die sich hermetisch abschotten und sich auch nicht mehr für den Rest der Gesellschaft interessieren. Nachdem man die blecherne Sprache des Neomarxismus abgeschüttelt hatte, gab es da zunächst einen überbordenden Hang hin zum Obskurantismus, zum Rückzug in Insider und Wortspiele, die kein Außenstehender mehr versteht. Dieser Obskurantismus führt auch zur Lektüre von vormals verpönten rechten Theoretikern wie Carl Schmitt. Man öffnet sich nunmehr Modellen von Intellektualität, die nicht avantgardistisch sind und nur innerhalb eines elitären Zirkels ausgelebt werden. Das alles macht den Kunstdiskurs interessant. Denn auch die Kunst hatte aufgehört, avantgardistisch zu sein, auch sie rückt nun Intensitätserfahrungen ins Zentrum und bildet ein Sozialmilieu, das keine Politisierung mehr ausagiert, sondern hedonistisch im Nachtleben unterwegs ist. Die Verbindung zur Kunst ermöglichte der Theorie neue Formen von Artikulation, die auf Stringenz, Logik, Repräsentation verzichteten. Dort wurde Merve heimisch und blieb es bis heute.

Wie verstehen Sie den Unterschied zwischen Avantgarde und Elite?

Denken Sie z.B. an Luxus. Luxus hatte bis in die 60er eine avantgardistische, progressive Funktion. Damals konnte sich etwa Flugreisen nur eine sehr kleine Schicht der Gesellschaft leisten. Dennoch hatten Innovationen wie die Concorde die gesellschaftliche Funktion eines Magneten, der die gesamte Gesellschaft nach vorne zieht. Es war völlig klar: In naher Zukunft werden sich alle solche Flugreisen leisten können. Luxus hatte insoweit ein progressives Moment, er verhieß eine bessere Zukunft für alle. Das ändert sich in den 80ern. Nun wird Luxus etwas Elitäres, das in abgeschotteten Enklaven stattfindet. Wie Avantgarden, so sind auch Eliten kleine Gruppierungen, die sich vom Rest der Gesellschaft abgrenzen. Im Gegensatz zu Avantgarden gehen Eliten aber nicht davon aus, dass diese Trennung je aufgehoben wird, dass sie also eine breitere gesellschaftliche Bewegung nach sich ziehen, in der sie irgendwann aufgehen. Ähnliches passiert mit der Theorie. In der Vorstellung der Leser besaß auch Theorie dieses avantgardistische Moment: Die schwierigen Texte wurden mit der Idee gelesen, dass sie zunächst vielleicht nur von Wenigen verstanden werden. Aber wie ein Magnet zöge dies die Gesellschaft nach vorne, bis Theorie zum Gemeingut würde und alle diese Texte verstünden oder sie sogar, weil gesellschaftlich verwirklicht, obsolet würde.

 

Fotocredit: Janina Reichmann

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