Interview Kulturphilter Online

Mit der Minima Moralia in der Jackentasche

Wie alles begann: Peter Gente entdeckt Adorno am Fließband

Ihr Buch erzählt die Geschichte der Theoriebegeisterung in der BRD von den 50er Jahren bis zum Mauerfall. Sie folgen den Spuren des Westberliner Kleinverlags Merve, der zeitweise Vorreiter im Genre „Theorie“ war. Der Held Ihrer Geschichte ist Peter Gente, der den Verlag unter anderem mit seiner damaligen Lebensgefährtin Merve Lowien begründet und 37 Jahre lang geleitet hat. Wie kam denn Gente zur Theorie?

Peter Gente stößt 1957 auf Adorno, während eines Ferienjobs in den Spandauer Siemenswerken. Er war 21 und stand am Beginn seines Studiums der Rechtswissenschaften an der Freien Universität. Am Fließband unterhalten sich zwei Kommilitonen über den damals noch kaum bekannten Frankfurter Dozenten, der bisherige Lebensweisen in Frage zu stellen scheint. Das muss auf Gente tiefen Eindruck gemacht haben. Er kauft sich Adornos Minima Moralia und liest sich in einem Buch fest, das er zunächst nicht versteht. Das ist ein hermetischer und schwieriger Text, der kaum verständlich ist, wenn man wie Gente unbeleckt hineinspringt. Trotzdem ist er fasziniert und bleibt dran. Fünf Jahre lang trägt er das Buch in seiner Jackentasche mit sich herum und mit der Zeit versteht er, worum es geht. Für ihn ist es ein Erweckungserlebnis, die erste Begegnung mit einem fremden Denkstil. Die Minima Moralia sind sein Schlüssel, um die Gegenwart zu begreifen. In der einen oder anderen Form finden solche Szenen bei jedem Theorieleser statt.

Was hat junge Menschen wie Gente damals für einen so schwierigen Autor wie Adorno eingenommen?

In Adorno findet eine Generation einen Theoretiker, der über das spricht, über das sonst niemand spricht: das Dritte Reich und den Nationalsozialismus. Adorno ist eine moralische Instanz, weil er nicht kompromittiert ist und durch sein Exil auf der Seite der Opfer steht. Doch vor allem findet Adorno eine Antwort auf das Kulturbedürfnis der deutschen Nachkriegsstudenten. Um dem kulturellen Kahlschlag der Nazi-Zeit zu entkommen, suchen sie den Anschluss an frühere kulturelle Traditionen, auch im Sinne der Normalisierung. Dieses Kulturbedürfnis führt Adorno seinen Jünger zu, da er mit seinen Interessen für Musik und Literatur den Höhenkamm der deutschen Kultur verkörpert. Im Spiegel einer radikalen Kultur- und Zeitkritik macht er die deutsche Überlieferung wieder zugänglich. So konnte man über den Umweg des unschuldig gebliebenen Remigranten auf einmal wieder Beethoven hören und Hölderlin lesen. Adorno war selbst erstaunt darüber, mit welcher Inbrunst die Studenten in seine Vorlesungen rannten. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland schrieb er in einem Brief an Leo Löwenthal, er habe den Eindruck, in die deutschen Studenten sei der Geist der ermordeten Juden gefahren. Gerade auch was Gente betrifft, den Protagonisten meines Buches, war Adorno stilprägend für das Genre „Theorie“. Die Minima Moralia waren die Blaupause vieler späterer Merve-Titel.

FFM_Adorno-GedenktafelInwieweit waren die Minima Moralia stilprägend für das Genre „Theorie“?

Zunächst ist da der Stil. Das ist ein hochpoetischer, geradezu lyrischer Text, der die frustrierenden Erfahrungen eines europäischen Intellektuellen im kalifornischen Exil schildert. Zudem traf Adorno die intellektuelle Stimmung der Zeit, das existentialistisch grundierte Lebensgefühl nach dem Krieg mit seinem Bedürfnis nach Melancholie und Einsamkeit und dem Gefühl, auch kulturell auf einer Ruinenlandschaft zu stehen. In diesem Gewand schmuggelt Adorno eine ambitionierte Gesellschaftskritik unter die Leser. Hinter den Aphorismen der Minima Moralia steckt das ganze theoretische Programm der Frankfurter Schule. Schließlich haben die Minima Moralia eine bestimmte Form der Lektüre etabliert. Das ist ein Buch, das man ambulatorisch lesen kann, das man mit sich tragen kann, nicht von vorne nach hinten lesen muss, in dem man blättern kann. Dieses Aphoristische und Nichtsystematische, die nowness, der ambitionierte theoretische Anspruch und der ambulatorische Charakter – diese Momente prägen auch die späteren Merve-Bändchen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie Gente nach seinem Erweckungserlebnis beginnt, alle erdenklichen Texte Adornos zu sammeln. Warum hat er das gemacht? Was war er für ein Typ?

Gente zeichnet sich durch ein Naturell der Zurückhaltung und Schüchternheit aus. Zwar war er in den 60ern in West-Berlin mit allen Größen der Studentenbewegung bekannt, war Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund und ging mit Andreas Baader auf dem Kudamm demonstrieren. Aber er war kein Aktivist. Im Tumult findet er, wie er später bekennt, keinen Weg, selbst einzugreifen. Auch als Autor war er eher unbegabt. Stattdessen machte er sich schon bald einen Namen als ein brillanter Leser. Er war ein Jäger und Sammler, der alle möglichen Texte ausfindig machte. Das war im Analog-Zeitalter nicht leicht. So wusste man nicht, dass man über den Nachlass Franz Neumanns an alte Jahrgänge der Zeitschrift für Sozialforschung kommt, die stärker marxistische Texte der Frankfurter Schule enthalten. Gente wusste das. Er versorgte Genossen mit wichtigen Texten und Ideen. Der Zeitgenosse Helmut Lethen hat ihn treffend als „Enzyklopädist des Aufruhrs“ bezeichnet. Aus diesen Gründen ist Gente auch ein geradezu idealtypischer Vertreter seiner Generation, der 68er und der Studentenbewegung. Bei ihrer ganzen Theorie-Obsession brachten sie selbst kaum Theoretiker von Rang hervor. Henning Ritter brachte das auf den Punkt, als er in seinen Notizheften sagte, die 68er hätten den historisch kompromittierten Vätern das Wort entzogen, aber nicht um es selbst zu ergreifen, sondern um es den Großeltern zurückzugeben: den exilierten, vielfach jüdischen Philosophen und Theoretikern wie auch Adorno einer war. Für die dazu nötige Grabungsarbeit in den Archiven besaß Gente eine immense Begabung. Die Professionalisierung seiner Leseleidenschaft als Verleger beantwortete schließlich die Frage nach seinem Lebensthema. Für ihn war es ein großer Glücksfall, dass er einen Verlag gründete. Den Klassenkampf führte er in den Archiven weiter.

Fotocredit: Frank Behnsen in der Deutschen  Wikipedia, über Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0

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