Interview Kulturphilter Online

Mit der Minima Moralia in der Jackentasche

Im sozialistischen Verlagskollektiv: Diskutieren bis zur Erschöpfung

Sie gliedern Ihre Geschichte anhand von vier entscheidenden Epochenjahren: 1965, 1970, 1977, 1984. Lassen Sie uns diese abschreiten, um Ihre Geschichte zu hören. 1965 ruft Jacob Taubes, Professor für Judaistik und Hermeneutik an der Freien Universität, Gente in sein Büro und stellt ihn als Hilfskraft an. Welche Bedeutung hat Taubes für Ihre Geschichte?

Taubes ist für das Westberliner Theoriemilieu sehr wichtig. Er wurde durch die Dahlemer Zeitschrift Alternative auf Gente aufmerksam. Gente gab 1965 eine Ausgabe zur in der BRD damals kaum bekannten neuen französischen Essayistik heraus, mit Texten etwa von Roland Barthes. Das imponierte Taubes, der in vielerlei Hinsicht für Gente geradezu ein role model war. Wie Gente war er kein Autor, denn geschrieben hat der Mann fast nichts. Dafür war er ein begnadeter Leser. Er las promiskuös und kanonisierte nicht so stark wie Adorno. Schon früh fasste er abgelegene Autoren an, die noch keiner las oder die auf dem Index standen, wie etwa Carl Schmitt, den Kronjuristen des Dritten Reichs. Von Taubes erhielt Gente so viele wichtige Lektüreanregungen. Auch war er ein umtriebiger Scout, der die neuesten Theorie-Moden als Verlagsberater bei Suhrkamp unterbrachte. Mit seinen ausgedehnten Tätigkeiten für Verlage senkte er bei Gente die Hemmschwellen, selbst einen Verlag zu gründen. Bis zu seinem Tod 1987 blieb Taubes für Merve ein wichtiger Gesprächspartner, Weggefährte und Freund.

1970 gründet Gente mit einigen Genossen Merve als „sozialistisches Verlagskollektiv“. Das klingt nach einer Unternehmung mit Programm. Wie verstand sich Merve und wie sah ihr Arbeitsalltag aus?

Merve begreift sich als Kollektiv, dessen politische Praxis darin bestand, marxistische Texte zu verbreiten, zumal durch Übersetzung von Autoren aus Frankreich oder Italien wie Louis Althusser oder Toni Negri. Als Betrieb wollen sie die Teilung von Hand- und Kopfarbeit und überkommene Geschlechterrollen überwinden. So müssen im Verlag alle Drucken lernen und an Büchertischen vor der Universität verkaufen. Begleitet wird das von einer steten Selbstreflexion. Getragen von einem enormen Glauben an die Kommunikation diskutieren sie dreimal die Woche über den Zustand des Kollektivs und der Gesellschaft, die stets als miteinander vermittelt zu betrachten waren. Sie begreifen das als elementaren Bestandteil der Kollektivarbeit und diskutieren oft bis zur Erschöpfung.

Warum hat Merve das gemacht? Hätte man marxistische Texte nicht effizienter verbreiten können, wenn man sich wie ein konventioneller Verlag organisiert?

Da ist Hans-Jürgen Krahl entscheidend, einer der wenigen Theoretiker von Rang, den die Studentenbewegung hervorbrachte. Mit Krahl, der 1970 mit nur 27 Jahren bei einem Autounfall starb, verbindet man die Organisationsfrage: Wie sind Institutionen zu organisieren, die die Revolution herbeiführen können? Marx hatte diese Frage unbeantwortet gelassen, er äußerte sich nicht dazu, wie die Revolution konkret herbeizuführen sei. Um diese Frage entbrannte in den sozialistischen Bewegungen dann schon früh ein großer Streit. Auf der einen Seite stand Lenins historisch äußerst wirkmächtige Antwort: Die Revolution führt man herbei, indem man eine konspirativ und streng hierarchisch organisierte Kaderpartei aufbaut, die in ihrer Struktur an den Faschismus gemahnt. Den Leninisten stellten sich später Spontaneisten wie Rosa Luxemburg entgegen, die argumentieren, dass man eine klassenlose Gesellschaft nicht mit Organisationen erreichen kann, die in sich deren Gegenteil darstellen. Organisationen, die die Revolution herbeiführen, müssten vielmehr die klassenlose Gesellschaft in den eigenen Reihen vorwegnehmen. Daran knüpft auch der antiautoritäre Flügel der Studentenbewegung an, dem Krahl und damals auch Merve zuzurechnen sind. Sie wollen jetzt und hier überkommene Hierarchien überwinden. Da ist klar: Ein Kollektiv wie Merve, das seine politische Praxis im Sinne dieser Theorie begreift, muss beständig seine eigene soziale Verfasstheit diskutieren. Stets gilt es zu verhindern, dass man in bestehende Gesellschaftsstrukturen zurückfällt, dass sich etwa informelle Hierarchien herausbilden und überkommene Rollenvorstellungen sich wieder unbemerkt einschleichen.

Hat Merve seine Ziele erreicht?

Wie in vielen anderen alternativen Betrieben dieser Zeit kommt es zu Abnützungs- und Frustrationserscheinungen. Mit ihrem Anspruch, die klassenlose Gesellschaft in den eigenen Reihen vorwegzunehmen, mussten sie scheitern, es blieb bei fortbestehenden Ungleichheiten. So war Gente immer der Patriarch des Kollektivs, der mehr Texte als alle anderen kannte und auch die meisten Texte vorschlug. Dies durfte aber nicht die Überwindung der Arbeitsteilung sabotieren, auch Gente musste am Büchertisch verkaufen. De facto gab es arbeitsteilige Hierarchien aber doch. Andere Genossen fühlten sich gegängelt und ausgebeutet und traten reihenweise aus. Ihr hoher Anspruch trieb das Kollektiv letztlich zur Auflösung.

Hat Merve in dieser Zeit auch anderweitig politische Praxis gemacht?

Auf Betreiben des italienischen Operaisten und Merve-Autors Toni Negri fährt das Kollektiv 1971 nach Wolfsburg, um die 6.000 italienischen Gastarbeiter in den VW-Werken zu agitieren. Operaisten wie Negri zählen ebenfalls zu den Spontaneisten und sehen ihre Mission darin, das Proletariat dazu zu bringen, selbst zu sprechen und sich selbst zu organisieren. So wollen sie aus dem Klassenkampf aussteigen, wie er durch Gewerkschaften und Parteien ausgetragen wird. Statt auf den offiziellen Foren der Politik nach Regeln zu spielen, die man nicht selbst definieren kann, setzen die Operaisten auf Subversion und passiven Widerstand. In diesem Sinne will Merve eine Arbeiterkneipe errichten, in der die Arbeiter miteinander ins Gespräch kommen, sich radikalisieren und organisieren sollen. Doch das Vorhaben scheitert. In der Retortenstadt fand sich offenbar kein geeigneter Raum für eine Kneipe. Zudem zog sich einer der Genossen abends vorm Schlafen vor den anderen aus, der das Verlagskollektiv zur Kommune steigern wollte. Aber damit kamen die anderen nicht klar. Auf einmal herrscht große Befangenheit, man will keine sexuelle Revolution in den eigenen Reihen, was wiederum in langen Diskussionen mündet. Kurz und gut: Betreten schweigend fuhr man am nächsten Tag nach Berlin zurück. Ich vermute, dass Gente als eingefleischter Adornit von solcher Betriebsarbeit nie wirklich überzeugt war. Er war zu theoretisch und intellektuell unterwegs, um darin seine Mission zu sehen.

Fotocredit: Janina Reichmann

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...