Interview Kulturphilter Online

Mit der Minima Moralia in der Jackentasche

Die ungewisse Zukunft von Theorie

Ihre Geschichte lassen Sie um 1990 enden. Warum ging der Sommer der Theorie damals zu Ende?

Der lange Sommer der Theorie geht nicht auf einen Schlag zu Ende. In den 90ern wird die französische Theorie, die Merve importiert hat, in Deutschland akademisiert. Doch dafür konnte sich Merve nicht mehr interessieren, der Verlag war dafür zu sehr in einer hermetischen, hedonistischen Kunstecke. Die goldene Zeit dieser publizistischen Unternehmung ist eher in den 80er Jahren, als Theorie in außerakademischen Milieus zirkulierte. Unterdessen findet an den Universitäten ein Wandel statt: Konnte man noch in den späten 90ern in der etablierten deutschen Geschichtswissenschaft mit Foucault provozieren, gilt er in den nuller Jahren in den neuen progressiveren Disziplinen wie der Kulturwissenschaft oder Wissenschaftsgeschichte schon beinah als überholt. Stattdessen beginnt eine Rückkehr der Wirklichkeit. Man diskutiert nicht mehr auf der Ebene von Theorien, sondern schreibt Fallgeschichten und Materialstudien. Das war nicht zuletzt ein von Foucault selbst angestoßener Wandel, denn das Material war heuristisch nur darum wieder interessant, weil alle Foucault gelesen hatten. In dieser Zeit werden auch die großen Abgesänge auf die Theorie geschrieben, etwa Terry Eagletons After Theory.

Hat Theorie denn noch eine Zukunft?

Die Frage ist schwierig zu beantworten, weil die Zeichen der Zeit so wenig eindeutig sind. Im Grunde müsste die jetzige Situation für eine neue Theorieblüte ideal sein. Die großen Gegenspieler Staat und Markt haben sich beide desavouiert. Eigentlich warten wir alle auf das neue große Ding. Aber ich sehe es nicht. Im Gegenteil, es macht auf mich den Eindruck, wir befänden uns akademisch in einer konservativen Phase, auch der Rückbesinnung auf klare disziplinäre Profile im Zeichen von Karriereaussichten. Und neue Theorie-Moden wie den Akzelerationismus würde ich eher den performativen Künsten zurechnen. Während der Theoriediskurs früher eine Selbstkritik der Institution ermöglicht hat, immer auch ein Diskurs darüber war, was es heißt, Akademiker zu sein, an der Universität zu sein, einer Disziplin anzugehören, hat er diese Rolle heute verloren. Und was Disziplinen wie die Kulturwissenschaft oder Wissenschaftsgeschichte betrifft: Die haben alle Theorie-Autoren fest kanonisiert, da kann man alle Namen heute zwanglos miteinander verbinden. Theorie hat seine institutionenkritische Brisanz verloren.

Philipp Felsch ist Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte erschien im März bei C. H. Beck in München.

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