Kulturphilter

Fabelhafter Weltenreichtum!

Die dreizehnte documenta erzählt die Geschichte der Gegenwart neu

 

Hundert Tage lang öffnet die documenta, die bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst, nun wieder Türen und Welten.

Über die documenta (13) dringen allerlei Skurrilitäten nach außen: Esoterisch soll sie sein, naturverbunden, Kunst als Spiritualität begreifen, besonders politisch, ja fast schon aktivistisch. Vor allem aber sei sie anders als alle documenta-Ausstellungen der Vergangenheit.

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„Die documenta, die bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst.“

Dass sie dies ist, ist nicht nur unmittelbar an der Vielzahl der Nebenschauplätze, innerhalb und außerhalb von Kassel, sondern auch am Fokus der Ausstellung festzumachen: Richtig fokussieren lässt sich nämlich im Grunde gar nichts, weil keinerlei Künstlerpersönlichkeiten schwer ins Gewicht fallen und die Aufmerksamkeit auf sich bündeln. Diese liegt vielmehr auf der Kuratorin Carolyn Christof-Bakargiev (CCB) oder dem Konzept selbst.

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„Es dürfen nur 50 Personen den Raum gleichzeitig betreten.“

Beginnen wir bei dem, was Christof-Bakargiev selbst als das „Brain“ bezeichnet: Der Rotunde im zentralen Ausstellungsort, dem Fredicianum. In diese kann man wie durch eine Schaufensterscheibe schauen, doch hinein kann nur, wer sich an den Türen angestellt hat: Es dürfen sich nur 50 Personen gleichzeitig im Raum aufhalten. Dieses Warten, diese Exklusivität macht das „Brain“ schon vorab zu einem Mysterium und gibt ihm die Aura einer Seltenheit. Drinnen findet sich eine Auswahl kleiner, fragiler Objekte.

Da wären zunächst die „Baktrischen Prinzessinnen“ aus dem Turkmenistan und Usbekistan der Bronzezeit. Von ihnen gibt es nur noch 80 auf der Welt, ihre Einzelteile sind bloß aufeinandergelegt, nicht zusammengeklebt: Die runden, schlichten aber feinen Formen muten minimalistisch an und fügen sich so gestalterisch in die Gegenwartskunst ein. Doch dahinter verbirgt sich noch mehr: Ein Rückerinnern, ja die Konservierung von kollektiver Vergangenheit insbesondere in ihren archaischen Formen und den feinen Mustern, die sich über die Oberfläche ziehen. Sie fragen nach dem Selbstverständnis der Gegenwart und der Geschichtsschreibung.

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„Was gemeinhin nur mit Intellekt und Nüchternheit abgehandelt wird, gelangt zu Intimität“ (© Louvre)

Diese Frage wird auch durch eine Zusammenstellung von Vasen weiter behandelt. Es sind keine beliebigen Gefäße, stellt der Betrachter im Laufe seines Rundganges fest. Sie stammen aus dem Atelier des 1964 verstorbenen Giorgio Morandi, denn sie sind auf einem seiner Bilder zu sehen, das ebenfalls ausgestellt ist. Die Töne sind zart und zurückhaltend und doch sehr bestimmt, spiegeln damit eine reflektierte Ohnmacht wider, die Morandi während des zweiten Weltkrieges, als er das Bild malte, gespürt haben muss und dem Betrachter noch heute nahe bringt. Überhaupt ist man Künstler und Vergangenheit sehr nahe. Dass man den Prozess der Gestaltung nachvollziehen kann, erzeugt eine neue Form von Geschichtsbewusstsein und Intimität mit dem Kunstwerk. Der Vorgang des Nachvollziehens verleibt einem die Erkenntnis und das Erleben sehr persönlich ein und fügt eine subjektive Verständnisebene hinzu.

Was gemeinhin nur mit Intellekt und Nüchternheit abgehandelt wird, gelangt zu Intimität. Das wird noch offensichtlicher, wenn man eine Fotostrecke aus dem zweiten Weltkrieg betrachtet: Anfang und Ende bilden zwei Tote, dazwischen Aufnahmen des Intérieurs, in dem sich Hitler wenig später umbrachte, Eva Braun in der Badewanne, mal auch Lee Miller, die Fotografin, nackt. Dem Gegenüber werden von einer Glasvitrine geschützt, der Parfum-Flakon von Eva Braun, ein Handtuch mit den Initialen AH – das auf dem Foto? – und eine Statue, die neben der Badewanne zu sehen ist präsentiert.

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„Jedes Objekt ist ein Mikrokosmos und vermag eine ganze Welt zu öffnen.“

Da läuft einem ein Schauer über den Rücken, so hautnah ist die Geschichte. Mit den Toten wollen und können wir mitleiden, doch sinnlich nachempfinden, was „das Böse“ fühlte? Die nonchalante Geschichtsschreibung wird so als schwarz-weiß Denken reflektiert. In der Realität jedoch, berührt uns Geschichte immer und unser Erinnern wird durch unser Erleben stark moduliert. Derart berührt, vermag der Betrachter kaum mehr die Geschichtspersonen in nüchternen Abstand zu rücken. Das Böse kommt einem so nahe, wie es eben in der Gegenwart tatsächlich ist, wird so noch bedrohlicher als die äußere Aggression, die sich in den Toten manifestiert.

Bombenlöcher, in denen sich Seen bilden, bei einer Bombardierung entstellte holzartige Artefakte, Radio-Nachahmungen aus Ziegelsteinen, Planskizzen und Notizen, ein aus Stein geformter Zementsack mit dem Aufdruck „ideas spring from deeds and not the other way round“…

Etwas ist all den Objekten im Brain gemeinsam: Sie sind nicht nur auf einen Sinneseindruck aus, sondern erzählen Geschichten. Jedes Objekt ist ein Mikrokosmos und vermag eine ganze Welt zu öffnen. Und dann handeln sie alle von der zentralen Thematik der documenta(13): Zerstörung und Wiederaufbau.

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„Das Readymade „Object to be destroyed“/ „Object of Destruction“/ „Indestructible Object“.“ (© The Museum of Modern Art, New York)

Das readymade „Object to be destroyed“/ „Object of Destruction“/ „Indestructible Object“ von Man Ray besteht aus Metronomen, an die Augen geheftet wurden (die von der Geliebten des Künstlers, Lee Miller (!),  stammen). Auch hier wird uns der Arbeitsprozess nahegelegt: Die Geliebte und die Geschichte zu ihr werden zunächst als zu zerstören wahrgenommen, doch in der Arbeit damit, stellt Man Ray fest, dass sich insbesondere das Immaterielle an der Geliebten nicht zerstören lässt. Auch die Querverbindungen innerhalb der Geschichte geraten hier zutage und werden durch den Raum, wie in den Köpfen der Betrachter, weitergesponnen.

Die Art und Weise der Betrachtung zieht sich durch die gesamte Ausstellung: Überall kann man sich in Mikrokosmen verlieren, derer es so viele gibt, dass es unmöglich scheint, alle zu besichtigen. Und dass dem tatsächlich so ist, dafür hat die Kuratorin selbst gesorgt: Teile der Ausstellung befinden sich in Kanada, Ägypten und Afghanistan.

Carolyn Christof-Bakargiev glaubt an die heilende Kraft der Kunst und daran dass sie politisch-gesellschaftlich tatsächlich etwas ändern kann, ja dass Kunst Wunden zu schließen vermag. In Kabul beispielsweise werden im Rahmen der documenta Workshops für Künstler angeboten und der Künstler Garcio Maria Torres ist auf den Spuren eines 1971 eröffneten, sieben Jahre lang von Alighiero Boetti geführten Künstler Hotels. Dieses „One Hotel“ hat er renoviert und präsentiert nun auf der documenta seine Recherchearbeiten, ein Video über das One Hotel und Faxausdrucke, imaginierte Briefe an Boetti.

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„Bezeichnend ist, dass nicht nur „herkömmliche“ Künstler ausstellen.“

Derart fügt sich auch die Frage nach dem Kunstbegriff in das Konzept ein: Kunst wird niemals klar getrennt von der restlichen Wirklichkeit, von der sie umgeben ist. Das Kreative an sich ist eher von Interesse als die Kunst. Bezeichnend ist, dass nicht nur „herkömmliche“ Künstler ausstellen, sondern auch Physiker, Schriftsteller, Geologen, Politologen und Historiker.

Überdies gibt es zweifelhafte Grenzgänge wie etwa einen Hundespielplatz, einen Hügel aus Kompost, auf dem Pflanzen wachsen, Klanginstallationen mitten im Wald und eine Petition für die Eintragung der Atmosphäre als Weltkulturerbe, bei der die Besucher mitmachen können.

Dabei wird klar, dass nicht nur das Objekt, wie im Brain eine herausragende Bedeutung erhält, sondern auch Tier und Pflanze, die Ausstellung insgesamt anti-anthropozentrisch und insbesondere auch anti-eurozentrisch ist.

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„Alles formt und schafft. Das ist kein neuer Standpunkt.“

Alles formt und schafft. Das ist kein neuer Standpunkt. Auf der documenta (7) 1982 pflanzte Joseph Beuys 7000 Eichen mit Freiwilligen und propagierte seinen erweiterten Begriff der Skulptur und die Wichtigkeit natürlicher Materialien. Interessant ist aber an der documenta (13) dass sie erstmalig auch ihre eigene Historie (an)erkennt. Bisherige documenta-Ausstellungen mussten den Kunstbegriff immer neu erfinden, ja wenn nicht diffamieren und negieren, dann zumindest leugnen, was bisherige Kuratoren unter Kunst verstanden hatten. Nun wird auf bestehendem Fundament gebaut. Zitationen Beuys, wie eine Kupferne Eiche, in deren Krone sich ein Stein befindet, finden sich zuhauf.

Dort wie hier geht es keinesfalls darum, Unerschöpfliches auszuschöpfen, Komplexität zu reduzieren, sondern diesen gerecht zu werden.

Deswegen ist die Betrachtungsweise der documenta (13) systemisch und gibt den Zusammenhängen mehr Bedeutung als bisher. Eine Synthese zwischen Objektivität und Subjektivität, zwischen Mensch und „dem Anderen“, zwischen vielerlei Kulturen versucht sie immer neu zu finden. Die documenta schreckt auch nicht vor dem Spirituellen zurück, so lassen die Künstler an den Wänden mystische Figuren tanzen und Motoren beten.

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„Kunst wird niemals klar getrennt von der restlichen Wirklichkeit“

Nachdem also alles in der Kunst reduziert und aufgelöst wurde, insbesondere Form und Farbe, ja nachdem man fragen mochte, was überhaupt noch zu schaffen übrig bliebe, zeigt die documenta (13), dass es tatsächlich weitergeht. Ob die Kunst sich durch ihren politisch-narrativen, journalistisch anmutenden Charakter neu legitimieren und positionieren kann bleibt dahingestellt und wird sich in der Zukunft zeigen.

Diese documenta verfolgt einen, bis in die Träume, dringt in das Bewusstsein und Unterbewusstsein gleichermaßen. Schweißgebadet wachen wir mitten in der Nacht auf, gepeinigt von all den Eindrücken und Geschichten, unseren eigenen Gedanken – und dennoch mit der Gewissheit, Zerstörtes wieder aufbauen zu können.

 

 

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„Zentrale Thematik der documenta(13): Zerstörung und Wiederaufbau.“

Fotos (sofern nicht anders vermerkt): Frederike Moormann

 

INFO

Die documenta ist die bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst.

Sie ist auf ein von dem Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode 1955 initiiertes Projekt während der Bundesgartenschau zurückzuführen. Dort sollte während des Nationalsozialismus unzugängliche, als „entartet“ diffamierte Kunst gezeigt werden. Der Anspruch die zeitgenössische Kunst zu “dokumentieren” findet sich auch in ihrem Namen wieder. Sie findet alle fünf Jahre in Kassel für hundert Tage statt und lädt Künstler aus aller Welt ein um ihre Werke auszustellen. Verschiedene Ausstellungsorte wie das Fredericianum, Ottoneum, die Documenta-Halle, die Neue Galerie, der Hauptbahnhof, die Orangerie sowie de große Park “Karlsaue” werden auch zu dieser documenta (13) mit Kunst gefüllt.

Infos und mehr findet ihr auf der Webseite der documenta (13)!

 

 

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