Kulturphilter Stadtplan

Vom Zerpflücken der Rose

Ein Besuch beim Lyrischen Quartett in Schwabing

Marcel Reich-Ranicki hatte einst über sein populäres Literaturkritikformat im ZDF, das Literarische Quartett, geschrieben: „Gibt es im Quartett ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich.“ Seit dem Jahr 2011 hat sich das Münchner Lyrikkabinett aufgemacht, auf dem Feld der Poesie den Gegenbeweis zu erbringen.

Das Lyrische Quartett zu Gast in den Räumen der Stiftung Lyrikkabinett (© Stiftung Lyrikkabinett)

Viermal jährlich finden sich in einem minimalistisch-würfelförmig gestalteten Hinterhofgebäude in der Schwabinger Amalienstraße die Literaturwissenschaftler und Lyriker Heinrich Detering und Harald Hartung, die freie Journalistin und Moderatorin Kristina Maidt-Zinke und ein wechselnder Gast zum Lyrischen Quartett zusammen. Das Publikum ist bunt gemischt, der Rahmen überschaubar und bereits beim Betreten des Vortragssaals wird eine Atmosphäre des geselligen, gelehrten Austausches spürbar. Dazu trägt schon das innenarchitektonische Arrangement bei: Über Lyrik wird hier inmitten von Lyrik diskutiert – hohe, kühle Stahlschränke verwahren einen Querschnitt durch die deutsche und internationale Poesie und stehen in einem anregenden Kontrast zu den hellen Holzplanken, die die Decke des integrierten Vortragssaals tragen. Dazwischen immer wieder aufgeschlagene Gedichtbände und künstlerische Interpretationen von Büchern und Buchregalen – und mittendrin zwei Schreibtische von Mitarbeitern des Lyrikkabinetts, die den eigentümlichen Werkstattcharakter des Raumes verstärken.

Zwischen Pubkultur und Blankvers

Zur fünften Auflage des Lyrischen Quartetts begrüßt das Terzett hier den vorwiegend lyrischen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Dirk von Petersdorff. In einem professoral-abgeklärten Kurzvortrag stellt er die 2011 erschienene Übersetzung des Gedichtbandes Zoom! von Simon Armitage vor, mit dem dieser 1989 sein aufsehenerregendes Debüt in der englischen Literaturszene gefeiert hat. Mit seinen alltagsnahen Themen und seinem umgangssprachlichen Stil bei gleichzeitig hohem Ton hält der Lyriker und ehemalige Sozialarbeiter Armitage die schwierige Balance zwischen Pubkultur und Blankvers – darin waren sich an diesem Abend alle einig. Er trifft damit den Geschmack des Publikums im Vereinigten Königreich, was sich in hohen Auflagenzahlen seiner Werke niederschlägt. In seinem Vortrag arbeitet von Petersdorff dann exemplarisch die dreifache Bedeutungsaufladung des Akts des Schreiens in Armitages Gedicht The Shout heraus – anfangs als Schrei im Kinderspiel, danach als Todesschrei und schließlich als Erinnerungsschrei des Freundes aus Kindestagen. Wenn er dabei ausführlich auf die poetischen Mittel des Armitage-Gedichts eingeht, ist das einerseits ein wohltuend textbasierter Interpretationszugang, andererseits kann man sich dann und wann der Erinnerung spröder, literaturwissenschaftlicher Proseminare nicht erwehren.

Trotzige Erinnerung oder schweres Selbstmitleid?

Stellt die Geschichte vom toten Freund aus Kindestagen eine poetische Wiederannäherung an das „traumgleiche Land der Kindheit“ dar, wie es von Petersdorff formuliert, so gilt das in extenso für Wulf Kirstens 2012 erschienenes Werk fliehende ansicht. In einer emphatischen Einlassung stellt Harald Hartung den zwei Jahre jüngeren, 1934 geborenen Kirsten, der in seinen Gedichten immer wieder verschüttet geglaubte, obersächsische Mundart ans Tageslicht bringt, in eine Tradition des Naturgedichts im Anschluss an Peter Huchel. Am Beispiel Dorfkindheit, vom Krieg überrollt hebt er außerdem besonders dessen trotziges Beharren auf der Relevanz der Perspektive der Nachkriegskinder hervor. Doch Verse wie: „so kam die befreiung als elend/auch über mich und meinesgleichen“ fordern zur kritischen Auseinandersetzung auf und sorgen für eine lebhafte Diskussion im Lyrischen Quartett. Maidt-Zinke verweist auf die generationengebundene Ästhetik Kirstens und von Petersdorff meldet in einer engagierten Stellungnahme politische und moralische Bedenken gegen die larmoyante Schwere in Thema und Stil des Huchel-Preisträgers an, freilich etwas konterkariert durch den Zusatz: „Ich will kein Urteil fällen.“ Ein Gedichtband, über den im Quartett letztlich Uneinigkeit herrscht – das Spektrum der Deutungen reicht dabei von meisterhafter Landschaftspoesie, die historische Erinnerungen wachhält, bis zum selbstmitleidigen, versuchten Realismus mit zu viel Scholle.

Ein Buch für Finnen, und solche, die es werden wollen“

„Überhasteter Surrealismus“ lautet dagegen die Quintessenz zu Joachim Zünders 2011 im Eigenverlag erschienener Gedichtsammlung Rauchgeister, die ihre Stoffe ebenfalls aus Landschaftserfahrungen, diesmal von einer Finnland-Reise des Autors, schöpft. Der Energie und Vitalität der Versanfänge Zünders, der Dichtung vor einem mystisch-transzendenten, oft schamanischen Hintergrund begreift, stünden dabei vorschnell aufgegebene sprachliche Bilder und ein „Auskübeln von Bedeutungen“ entgegen, so von Petersdorff. Es sei das Werk eines lyrischen Flaneurs, das durch seine hohe Ambivalenz gekennzeichnet ist, wie Detering in seinem Eingangsstatement bemerkt. „Ein Buch für Finnen, und solche, die es werden wollen“, schiebt Hartung sarkastisch hinterher.

llse Aichingers tieftraurige Subjektivität in knappster Form

Lieber schweigend wirken lassen als analysieren möchte Kristina Maidt-Zinke die Wortkunstwerke Ilse Aichingers aus ihrem Gedichtband Verschenkter Rat von 1978, der im Quartett unter der Rubrik „Haltbarkeitstest“ behandelt wird. Die Gedichte Teil der Frage, Zeitlicher Rat und Lose Sprossen geben der lyrischen Runde die Möglichkeit, auf die Technik der extremen Bedeutungsverdichtung bei inhaltlichem Ausdruck einer tieftraurigen Subjektivität hinzuweisen. Maidt-Zink verweist in diesem Zusammenhang auf die Todessehnsucht der Wiener Dichterin, von der der Ausspruch stammt „Ich halte meine Existenz für völlig unnötig.“ In Aichingers Gedicht Teil der Frage macht Detering den Zauber ihrer Dichtung greifbarer, wenn er Sätze wie – „Soll ich in den Berg, oder ins Haus mit denen, die mich lieben, und den weiten Blick, das Knirschen aller Schritte, noch einmal?“ – vor dem biographischen Kontext der Deportation ihrer jüdischen Großmutter durch NS-Schergen liest. Deutlich wird auf diese Weise, wie scheinbare inhaltliche Brüche auf einen Tiefensinn verweisen, der die Tragik zweier Menschenleben enthält.

Auch von Petersdorffs Hinweis auf die zunehmend schwierigere Entschlüsselung ihrer Verse, die voll von biblischen Anspielungen sind, vermag den großen Respekt und die Bewunderung der im Lyrikkabinett versammelten Kritikerrunde gegenüber der Grande Dame der österreichischen Literatur nicht zu schmälern. Ein Respekt vor der Kunst einer Lyrikerin, die ihrer tiefen Traurigkeit über die menschliche Existenz in weniger als einem Halbsatz Ausdruck zu verleihen vermag – etwa wenn sie das Gedicht Zeitlicher Rat enden lässt mit den Zeilen: „Wenn du es aber nicht glaubst, sage ja oder nicke willfährig mit dem Kopf, das nehmen sie auch.“

Gesellige Bildung statt oberflächlichem Pauschalurteil

Das Lyrische Quartett, es schlägt an diesem Abend ganz unterschiedliche Töne im Umgang mit den poetischen Werken an: von aufrichtiger Sympathie gegenüber einem hierzulande unbekannten, englischen Ausdruckskünstler bis hin zu kritischer Distanz gegenüber Wulf Kirstens Natur- und Regionallyrik; von begründeter Ablehnung der allzu wechselhaften Lyrik Zünders bis hin zur Verneigung vor einer literarischen Legende. Die Melodie des Abends bleibt jedoch dieselbe. Von einigen stimulierenden Zuspitzungen Hartungs durchsetzt, ist sie getragen von dem Bestreben, den Texten gerecht zu werden und sie ohne verschleiernden Fachjargon einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Statt oberflächlichem Pauschalurteil, Teilhaben an geselliger Bildung mit lyrischem Erkenntnisinteresse. Ein Abend, der neugierig macht auf das, was nur Lyrik ausdrücken kann, indem er ihren Zauber erfahrbar werden lässt. Detering fasst die Stimmung des Abends gelungen zusammen, indem er Brecht das letzte Wort gibt: „Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön.“

Lyrisches Quartett – Stiftung Lyrikkabinett

Amalienstraße 83a
80799 München

 

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