Kulturphilter

Ein großes Wort für viele kleine

Das Berliner Lyrikkollektiv G13 veröffentlicht seine erste Anthologie

 

Alles lässt sich in Prozentzahlen kategorisieren. Sogar das Paradies. Eigentlich ist es schwer zu fassen, dieses Ding, das wir alle gerne vor der Haustüre hätten oder zusammenfaltbar in der Tasche. Bestellbar auf Vorrat, im Katalog, nein, bequemer noch auf amazon.de. Immerhin 40% davon lassen sich tatsächlich dort bestellen: „40% Paradies“, verpackt im ersten gemeinsamen Buch des 2009 in Berlin gegründeten Lyrikkollektivs G13.

Vierzehn junge Dichter beschreiben darin auf knapp 150 Seiten ihre Welt. Sie tun das auf eine ähnliche, aber doch vielfältige Weise, bunt, grau, anrührend, trocken, wissenschaftlich, poetisch, auf jeden Fall gebildet, bisweilen altklug – mit einer Vorliebe für Züge, Italienurlaube und die konsequente Kleinschreibung.

 

besetztzeichen

 

ich wasche das geschirr

drehe die sicherungen heraus

schulter meinen rucksack

 

verschenke familienfotos

begleiche meine schulden

ziehe das telefon aus der wand

 

ich laufe zur kaufhalle

warte auf den lastwagen

in richtung grunewald

 

es ist nicht einfach mich

auf diesem weg zu treffen

bitte versucht es weiter

(Max Czollek)

 

Was ist das für eine Welt, der man auf einer Skala von eins bis hundert einen Paradiesgehalt von 40 attestiert? Alle Dichter dieser Anthologie sind kritische Menschen. Bitte, 40%. Aber es sind eben Dichter. Ein klassischer Rechenbankrealist gäbe hier höchstens 15%.

Während der Rechenbankrealist sich nun wohl oder übel mit dem wenigen existent Schönen zufriedengeben muss, zerlegt der – ebenso unter den Umständen leidende – Dichter die Welt in die Einzelteile seiner Lebenserfahrungen und setzt sie in ausgewählten Worten wieder zusammen. Und genau da passiert das kleine Wunder: Im Zusammenfügen entsteht selbst ein wenig Paradies, ganz real und sogar reproduzierbar. Es grünt zwischen den Zeilen, blüht in einer kleinen Wendung, weht durch einen Ausdruck oder lugt hinter einem Komma hervor.

 

Schließ die Schädeldecke, atme

 

[…] Dann kentern Regime im Abfluss. Die Zeit ist eine Wechselstube

für Minuten. Abends, wenn alles überstanden ist, sitze ich im Café,

 

lese Passanten den Wasserstand ihrer Augen ab.

(Rebecca Ciesielski)

 

Der Lyrikband erzählt, was zwischen den 80er Jahren und der Gegenwart, der bisherigen Lebenszeit der Autoren, passiert ist, was die jungen Menschen beschäftigt und umtreibt. Er zeigt dabei vor allem eines: sie sind immer unterwegs. Der Rucksack, das Reisen, die Fort-Bewegung: ein ständig wiederkehrendes Motiv. Die Anthologie bietet eine Sammlung der Eindrücke einer gewissermaßen mit Freiheit verwöhnten Generation, mobil wie nie zuvor. Und dabei die Erkenntnis: Ein online gebuchtes Billigflugticket ist nicht der Schlüssel für alle Türen dieser Welt.

 

Liebeskummer

 

Es zieht!

Ich finde nur die Türe nicht

durch die du mein Herz verlassen hast

(Can Pestanli)

 

Auch die alten, großen Fragen der Literatur kommen in dem Band nicht zu kurz. Von Stille ist da die Rede, von Leere, Anfang und Ende zwischen Mann und Frau, alt und jung, Sprache und Sprache. G13 will nach eigenen Angaben keine einheitliche Poetik entwickeln. Stattdessen sollen verschiedene Ansätze und Haltungen zusammengebracht und in einen „dauerhaften Dialog“ verwickelt werden. Überzeugt davon, dass kollektive Formen des „solidarisch-kritischen Austauschs“ sich positiv auf das Schreiben auswirken, versucht die Gruppe so, den Tendenzen zu Konkurrenz und Vereinzelung auf dem heutigen Literaturmarkt entgegen zu wirken. Mit öffentlichen Veranstaltungen, Transparenz bei den Schreibprozessen und Diskussionsforen im Netz.

 

zuggedicht I

 

was willst du machen so jung

und die flügel fallen aus

trainierst buchstabenhochsprung

wirst zugvogel und

die taschen noch nicht voll genug

mit kleingedrucktem

vermeidest du dann doch die grenzen

(Helene Könau)

 

Die in „40% Paradies“ versammelten Gedichte ähneln einander, in Form, Sprachduktus und Inhalt. In der Gruppe versammelt sind sie überzeugend, stark in der Wirkung. Abgesondert und für sich gestellt, offenbaren sie notwendigerweise qualitative Unterschiede, nach denen sie aufgereiht werden könnten, auf einer Treppe abwärts zwischen Herzgedicht und Wortspielerei. Paradies auf Papier: Vierzig Prozent davon verspricht der Band des Lyrikkollektivs. Wo die anderen sechzig Prozent abgeblieben und vielleicht wieder zu erlangen sind, und zwar real, muss sich ein jeder selbst fragen. Am besten bei der Lektüre dieses Buchs.

 

40% Paradies. Gedichte des Lyrikkollektivs G13. Wiesbaden 2012. ISBN 978-3-939557-66-1, EUR 24,-

 

Cover

Für dich vielleicht ebenfalls interessant...