Kulturphilter Stadtplan

Impressionen einer mythischen Nacht

Der Installationskünstler Spencer Tunick erschafft ein Erlebnis

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„Eigentlich nichts für kühle Nächte.“ (Ⓒ Wilfried Hösl)

Zwei Uhr morgens. Das Viertelfinale gegen Griechenland verpasst. Schlaf war wichtiger. Baldrian eine große Hilfe. Zumindest für vier Stunden. Sieben schlaflose Stunden folgen. Sieben Stunden zwischen 1700 nackten Menschen. Angezogen.

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„Hat Kunst Sinn?“ (ⒸWilfried Hösl)

Als eine von etwa 80 Volunteers bin ich ein blinder Passagier auf dem Schiff „Spencer Tunick“, denn die Presse wurde hinter Absperrungen verbannt. Auf Hilfe sind der New Yorker Spencer Tunick und sein Team allerdings angewiesen, kostenlose Hilfe. Eine unglaubliche Masse an Mensch muss bewegt und in Stellung gebracht werden.

Zwei Scheinwerfer beleuchten den Marstallplatz. Es ist erst halb drei. Schon bilden sich Menschentrauben vor dem „Check-in“. Müllsäcke und ein kleines Plastikdöschen werden verteilt. Der Müllsack für die Kleidung, das Döschen für die Ersatzkleidung. Diese fällt entweder rot oder golden aus und ist recht dünn. Eigentlich nichts für kühle Nächte. Die Teammitglieder von Spencer machen Stimmung: „Hey guys! Hey guys!“, sind schrecklich enthusiastisch und damit um diese Uhrzeit sehr amerikanisch.

Gegen vier tritt der Meister auf. Er erklimmt eine Leiter. „Good morning!“ Er gibt dem Dolmetscher das Zeichen zum Übersetzten. 1700 Menschen lachen. Wie noch öfter an diesem guten Morgen, wenn Tunicks amerikanischer Flow in deutsche Kasernensprache verwandelt wird. Plötzlich verstehe ich, warum Deutsch manchmal als aggressive Sprache empfunden wird.

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„Die Farbe macht die Personen zum Bild.“(Ⓒ Wilfried Hösl)

Ein Wort von Tunick. Die Metamorphose beginnt. Gesellschaftliche Konventionen verschwinden aus 1700 Gedächtnissen. Der Himmel färbt sich kornblumenblau. Der Marstallplatz mohnblumenrot. 17 000 Finger fassen in die Farbtöpfe. Streichen rote Farbe auf Beine, Oberkörper, schließlich auf Gesicht und Haare. Die Farbe macht die Person zum Bild, den Körper zum Kunstwerk. Oder hilft sie nur bei der Bewusstwerdung des Kunstwerkes?

Ich bin Assistentin des Kameramannes. Er macht ein „Making of“ zu jedem von Tunicks Installationen. Seit 15 Jahren arbeitet er mit ihm zusammen. Kennt seinen Umgangston. Lächelt, wenn er aus dem Saal geworfen wird, wenn Tunick mit beleidigter Stimme ins Megaphon, quer über den Max-Joseph-Platz, ruft: „That’s not fair what you’re doing! That’s not fair!“.

Im Team breitet sich Hektik aus. Der Sonnenaufgang naht. Der rote Tross bewegt sich durch den Hofgarten auf die Ludwigstraße zu. Zwei Radfahrer bleiben erstaunt stehen. Einer steigt ab, steift sich die Kleidung vom Leib, wird von der jubelnden Menge aufgenommen und mit Farbresten zu ihresgleichen gemacht.

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„Nacktheit wird zur Uniform.“ (Foto der Autorin)

Das gesamte Gebiet um die Staatsoper sollte abgesperrt sein. Von Securities gesichert. Eigentlich, denn die Securities werden lieber selbst zu Schaulistigen, als Schaulustige vor Absperrungen zu halten. Was das soll? Kaum einer fragt. Hat Kunst Sinn?

Hat sie. Tunicks Installation ist ein künstlerisches Pendant zu Andreas Kriegenburgs Inszenierung des „Ring des Nibelungen“ an der Bayerischen Staatsoper. Die Schönheit des Körpers. Auch sein Ring lebt davon. Zumindest 100 Statisten färben sich auch hier rot, blau, schwarz oder weiß. Verwandeln sich in Körperskulpturen, in einen Bewegungschor. Der einzige Unterschied: Slip und BH sind hier noch erlaubt.

Tunicks Form ist gewagter. Das Erlebnis vergleichbar. Nacktheit wird zur Uniform. Die Kraft des „wir“ schwebt über den Menschen. Vorurteile aber auch Individualität, Individualität aber auch Vorurteile werden zurückgedrängt, der Körper in seiner Gestalt akzeptiert.

Für Spencer Tunick hat jeder Körper etwas Schönes. Andreas Kriegenburg sagt bei einer Probe zu den spärlich bekleideten Statisten: „Ihr seid alle wunderschön. So wie ihr seid.“ Und es stimmt. Es ist nicht zu fassen: Jeder Körper auf dem Max-Joseph-Platz ist schön. Interessant. Faszinierend. Wo ist das Schönheitsideal geblieben? Maße? Konventionen? Sie wurden mit der Kleidung abgestreift. Mit den zwickenden Hosen und taillierten T-Shirts.

Es ist neun Uhr. Immer noch bewegen sich rote und goldene Körper. Diesmal in Richtung Oper. Einer bleibt zurück, hinkt. Zwei rote Männchen greifen ihm unter die Arme, tragen ihn zum Ziel. Die Menge auf den Stufen der Oper ist begeistert. Stolz ist man auf die Gemeinschaft, die nichts als Nacktheit gemein hat.

Zurück bleiben rote Löwen auf dem Odeonsplatz, rosagefärbte Haare und ein paar Fotos. Die Erfahrung wird das Eindrucksvollste bleiben.

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„Tunicks Installation ist ein künstlerisches Pendant zu Andreas Kriegenburgs Inszenierung des „Ring des Nibelungen“.“ (Ⓒ Archiv der Bayerischen Staatsoper)

 

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