Unileben

“Es gibt immer etwas zu tun – das gilt auch, wenn es darum geht, Verantwortung für die Wissensproduktion zu übernehmen”

Ein Interview mit Feminismus-Forscherin Redi Koobak über “situated knowledges”, Verantwortung und Moral in der Forschung.

Universität in Bergen: ein Ort der Wissensproduktion, an dem auch Redi Koobak tätig ist. Foto: Privat.

Donna Haraway stellte mit ihrem Konzept des „situierten Wissens“ (“situated knowledges”) traditionelle wissenschaftliche Methoden auf den Kopf. Davon ausgehend hat Feminismus-Forscherin Redi Koobak, Post-Doc-Fellow an der Universität Bergen in Norwegen, mit uns über erkenntnistheoretische und moralische Verantwortung, politische Implikationen und ihre eigene Forschung gesprochen.

Das Email-Interview führte Felix Meinert.

Die US-amerikanische Theoretikerin Donna Haraway hat das Konzept des „situierten Wissens“ ausformuliert, um auf die Subjektivität und unabdingbare Abhängigkeit der eigenen Perspektive in der Forschung aufmerksam zu machen. Was bedeutet das jetzt?

Das Konzept ist zu einem sehr fruchtbaren Theorieansatz geworden und hat weitreichende Auswirkungen darauf, wie wir über die Wissensproduktion nachdenken. In ihrem Essay über „Situated Knowledges“ aus 1988 stellt Haraway die These auf, dass wissenschaftliche Erkenntnis weder werteneutral noch unabhängig von den Forschenden ist. Sie plädiert für eine „feminist objectivity“, eine Form der Objektivität also, die in Betracht zieht, dass man als Forschende*r durch die eigene Position begrenzt ist. Haraways Ansatz ist eine Kritik an dem Gedanken, dass Wissenschaftler*innen gesichts-, körper- und kontextlos forschen und dabei losgelöst von der eigenen Person und Beziehung zum Forschungsobjekt arbeiten würden.

Wenn man allerdings den eigenen Blick auf die Dinge, die eigene Position und ihre Konsequenzen versteht, dann erlaubt das den Wissenschaftler*innen viel objektiver zu forschen, als wenn sie sich als vermeintlich neutrale Beobachter*innen ausgeben. Indem sie ihre eigenen Positionen, ihre eigenen Unzulänglichkeiten reflektieren, vermeiden Forschende zudem, dass sie mit angeblich alleserklärenden Großerzählungen daherkommen. „Situatedness“, wie Haraway sie beschreibt, liegt im Kontext zu jeder Forschung und setzt sich zusammen aus Ort und Zeit des Vorhabens, aber auch daraus, wer die Forschenden sind, in einem körperlichen Sinne, und wie sie in historischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen verankert sind.

Was motiviert dich dazu, dich mit der Idee des „situierten Wissens“ zu beschäftigen?

Man könnte sagen, dass das Konzept ein Denk- und Schreibwerkzeug für mich ist, von dem aus ich eigene Forschungsvorhaben realisiere. Meine kulturanalytischen und ethnografischen Untersuchungen beschäftigen sich dabei mit Einstellungen zu Gender, Sexualität und Racialization und – von einer globalen Perspektive aus betrachtet – mit der Frage, inwiefern Wissen situiert, also abhängig von den Hervorbringer*innen ist. Der Fokus liegt dabei auf den bildenden Künsten, kulturellen Vorstellungen und Gedankenwelten, dem medialen Diskurs sowie Aktivismus und daraus resultierenden Aktionen. 

Kannst du das konkreter fassen?

Nehmen wir meine Doktorarbeit als Beispiel: In ihr beschäftige ich mich ethnografisch mit dem Aktivismus von Anna-Stina Treumund. Sie war die erste Künstlerin Estlands, die queer-feministische und lesbische Sexualität in den Mittelpunkt ihrer Aktionen gestellt hat. Eine der zentralen Fragen der Arbeit war dann: Wie kann man ihre Fotografien kritisch betrachten, ohne dabei die Erzählung zu bestärken, dass Osteuropa dem Westen „hinterherhängt“, was die sexuelle Befreiungsbewegung anbelangt? An diesem Punkt erlangt natürlich meine eigene Lebenserfahrung als estnische Feminismus-Forscherin Bedeutung. Gleichzeitig bin ich in einer überwiegend englischsprachigen akademischen Welt beheimatet, die sich sehr auf die Unterschiede zwischen Erster und Dritter Welt konzentriert und den postkommunistischen Ländern Osteuropas [zu denen Estland gehört, Anm. der Redaktion] wenig Aufmerksamkeit schenkt. Das heißt: Die Arbeit hat es regelrecht verlangt, dass ich mich auf verschiedenen Ebenen selbst hinterfrage. 

Wenn wir von Haraway ausgehen und die Annahme akzeptieren, dass es eine von allen Zwängen losgelöste wissenschaftliche Objektivität nicht geben kann, wo ziehen wir dann die Grenze zum Relativismus?

Donna Haraway hat ja selbst gesagt, dass sie oft als eine Relativistin missverstanden wurde. Darum ging es ihr aber nicht. „Situiertes Wissen“ ist für Haraway nicht im Spektrum zwischen Relativismus und Objektivität einzuordnen, sondern eher eine neue Weise, über Objektivität nachzudenken. Für Haraway sind die konkreten Menschen bedeutend, die Wissen erzeugen, und die Machtbeziehungen, die in diesen Menschen verkörpert sind. Wer nämlich fälschlicherweise davon ausgeht, dass die Wissenschafts-Community körperlos und damit frei von Beschränkungen und Verantwortung ist, der bereitet ihr erst den Weg hin zu einem falschen Universalismus und Relativismus. Zu verstehen, wie man selbst situiert ist, erlaubt es hingegen verantwortliche, weil reflektierte wissenschaftliche Aussagen zu fassen.

Haraway stellt die These auf, dass unsere Auffassungen von Wahrheit alle „verkörperlicht“ sind. Was meint sie damit? 

Haraway bringt das verkörperte Wissen ins Spiel, um den Begriff der „Sicht“ näher zu bestimmen. Im Gegensatz zum positivistischen Ansatz [wonach das Gesehene völlig unabhängig vom Betrachter wäre, Anm. der Redaktion] ist für Haraway die Sicht auf die Dinge und das Sehen ein mit den jeweiligen Menschen verknüpfter Vorgang. Situiertes Wissen kommt demnach zustande, indem die verschiedenen Identitätsmarker der Forschenden – Gender, Klasse, race – reflektiert und die aus ihnen resultierenden Machtbeziehungen kenntlich gemacht werden. Wenn wir diese Einflüsse verstehen und nachvollziehbar machen, dann können wir kompetent darlegen, warum wir den Teil der Realität so sehen, wie wir ihn sehen, und übernehmen damit moralische und politische Verantwortung für die Forschung. Um noch einmal Haraway zu zitieren: Das geschieht nicht um der „Voreingenommenheit selbst willen, sondern um die Verbindungen und Möglichkeiten zu erkennen, die uns situiertes Wissen öffnet. Es geht hier um Gemeinschaften, nicht um einzelne Individuen, denn der einzige Weg, um größere Erkenntnis zu erlangen, ist, indem man sich selbst eindeutig verorten kann.“

Das klingt so, als könnten wir als Mitglieder einer Gesellschaft viel voneinander lernen, wenn wir unsere Unterschiede wertschätzen – selbst dann, wenn wir unterschiedlicher Ansichten sind. Würdest du dem zustimmen? 

Absolut! Ich halte es für wichtig, sich daran zu erinnern, dass, nur weil man sich irgendwo verortet, man nicht an dieser Position festgenagelt ist. Unterschiede können wandelbar sein und unsere eigene Position zu verstehen, hilft uns, das im Kopf zu behalten. Das gerade lässt mich an den Transversalismus denken, also die Idee, dass ein Mitglied einer bestimmten Gruppe sich zu den eigenen, partiellen Perspektiven bekennt und gleichzeitig alles daransetzt, die Perspektive anders Situierter nachzuvollziehen und für sie einzutreten. In diesem Sinne kann politische Solidarität aufgebaut werden, ohne auf eine zu enge Auffassung der Identitätspolitik zurückgreifen zu müssen, in der Unterschiede auf politisch unhaltbare Wege unterdrückt werden. Situiertes Wissen ist also auch nicht gleichzusetzen mit Identitätspolitik, und andersherum.

Die Idee des “situierten Wissens” ist eine sehr abstrakte. Wie kann man das Konzept in der Praxis umsetzen?

Im Gegenteil, ich denke, dass das Konzept an vielen Stellen sehr konkret wird. Es hebt zentrale Fragen hervor wie: Wer spricht da in diesem Essay und wie wirkt sich das auf die wissenschaftliche Arbeit aus? Sich klarzumachen, von welcher Position aus Forschende zu welchen Annahmen und Schlüssen kommen, ist ein Weg, um über den Tellerrand hinauszuschauen. Deshalb rate ich meinen Studierenden, das Ich mitzudenken und mitzuschreiben, wenn sie an einem Text arbeiten. Auf diese Weise macht man die vermeintlich unpersönliche und kontextlose Erzählfigur konkret, lässt sich auf die eigene begrenzte Perspektive ein und übernimmt schlussendlich Verantwortung für die Arbeit. 

Muss unsere Gesellschaft besser darin werden, Verantwortung für ihre Wissensansprüche zu übernehmen? 

Es gibt immer etwas zu tun – das gilt auch, wenn es darum geht, Verantwortung für die Wissensproduktion zu übernehmen. Sich moralisch verantwortlich für die eigene Interpretation der Realität zu zeigen, ist sehr zentral für Haraway. In eine ähnliche Richtung geht Karen Barad, wenn sie betont, wie eng Moral, Sein und Wissen miteinander verknüpft sind. Es ist unmöglich, dass Forschende komplett losgelöst sind vom Forschungsobjekt, die Wissenden vom Wissen. Deshalb ist es wichtig, dass Wissenschaftler*innen berücksichtigen, wie ihre Forschung die Realität beziehungsweise die Sicht anderer auf die Realität beeinflusst. Gleichsam hebt Haraway hervor, dass Moral und Verantwortung auch bezüglich der Erde und ihrer Bewohner – menschlich und nicht-menschlich – von Bedeutung zu verstehen sind. Wir sind den Lebewesen verschuldet, die uns Menschen am Leben erhalten. Dafür können wir uns erkenntlich zeigen, indem wir uns damit auseinandersetzen, wie wir darin verstrickt sind, dass nicht alle Lebewesen gleich viel wertgeschätzt werden.

Um noch mal das größere Bild zu betrachten: Denkst du, dass es zu einem offeneren, pluralistischeren Austausch kommt, wenn wir uns unser eigenen Situiertheit bewusst sind? Verhilft es marginalisierten Stimmen zu mehr Sichtbarkeit, wenn wir über die eigene Situiertheit reflektieren?

Unsere eigene gesellschaftliche Position zu reflektieren heißt nicht gleich, dass wir damit marginalisierten Personen zu mehr Sichtbarkeit verhelfen. Diese Annahme wäre auch sehr bevormundend. Haraway warnt davor, dass wir die Perspektiven der Marginalisierten romantiseren oder uns ihnen gar anbiedern. Ihr Konzept erlaubt es allerdings, Aussagen über kulturelle Akzeptanz und Ausschluss, über Vorherrschaft und Unterordnung zu machen. Das schließt ein, dass Widerstand kenntlich gemacht wird, und das Aussagen über den privilegierten Zugang zu Wissen getroffen werden, um zu verstehen, wie Menschen letztlich ausgegrenzt werden.

Auf den Punkt gebracht: Es geht nicht darum, eine inklusivere und pluralistischere Gesellschaft zu formen oder marginalisierten Stimmen zu helfen, gehört zu werden. An erster Stelle steht, dass wir anders darüber nachdenken müssen, wie Veränderung entsteht. Wir müssen lernen, Fragen zu stellen, die viele Antworten haben, oder auch keine. Dahingehend ist die eigene Position zu hinterfragen auch ein Weg, um erst einmal Fragen zu entwickeln. Hauptsache ist: Diese Fragen werden gestellt. Denn zentral ist, dass Forschende realisieren, dass es verantwortungslos wäre, dies nicht zu tun.

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