Das Künstler*innenkollektiv „Die Städtischen“ hat mit einer Aktion im besten Guerillatheaterstil in Schwabing den öffentlichen Raum als Spielfläche erschlossen.
Von Samuel Kopp
München-Schwabing, Kreuzung Georgenstraße/Tengstraße, ein Abend im August, kurz nach 21 Uhr. Eine Fußgänger*innengruppe auf der Straße, von rechts kommt ein Radfahrer. Ein Unfall, aber keine Polizei. Stattdessen gut hundert Menschen, die über die vier Ecken der Kreuzung verteilt die Vorstellung verfolgen, mit Maske und Abstand.
Zu verdanken haben sie dieses unverhoffte Spektakel dem Münchner Künstler*innenkollektiv „Die Städtischen“, das in der letzten Augustwoche sein lange geplantes Gründungsprojekt umsetzen konnte. Es besteht aus sechs verschiedenen Veranstaltungen an sechs Abenden von Montag bis Samstag. Sie alle verfolgen dasselbe Ziel: den städtischen Raum kulturell nutzbar zu machen.
Niemand konnte wissen, was passieren würde
Unter diesem Motto steht auch die Aufführung an jener Kreuzung, die vor einiger Zeit deutschlandweit Schlagzeilen als jüngstes Beispiel für ausufernden Bürokratismus machte, weil die Stadt dort gemäß den Vorschriften nicht weniger als 32 Zebrastreifenschilder anbringen ließ, die Hälfte davon beleuchtet. Für eine Darbietung, die mittels eines inszenierten Unfalls die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen lassen möchte, ein ebenso stimmungsvoller wie humorvoll gewählter Ort.
Dieser Spielort verlangt den Schauspieler*innen allerdings auch größte Flexibilität und zuweilen Improvisationskünste ab. Denn weder wurde die Kreuzung für den Verkehr gesperrt, noch die Aktion im Vorfeld angemeldet (der Ort des Geschehens wurde erst am Tag der Aufführung bekanntgegeben). Niemand konnte genau wissen, was letztlich geschehen würde. Wann würde die Straße frei sein? Würde sich jemand einmischen oder gar die Polizei rufen?
Die Regie über dieses Wagnis führt Louis Lafos, dessen literarische Fähigkeiten manch eine*r schon von den markanten neonfarbenen Zetteln mit Lyrik und Prosa kennt, die Anfang des Sommers an vielen Stellen in der Stadt aushingen – ein weiteres Projekt des Künstler*innenkollektivs. So weiß das Stück, das schlicht „Das Kreuzungstheater“ heißt und bewusst auf eine weiterführende Handlung verzichtet, mit einer Mischung aus kritisch-subtilen Zwischentönen und schwermütigen, fast schon philosophischen Überlegungen inhaltlich zu überzeugen.
Tanz in Overalls auf der Baustelle
Im Gedächtnis bleibt etwa die Überlegung eines Protagonisten, sein kaputtes Handy sei nur eine wertlose Hülle, das eigentlich Wertvolle seien die darin abgespeicherten Nachrichten und Bilder. Was das zu bedeuten hat, muss jede*r für sich selbst wissen. Die Darbietung, die zumindest aus Sicht der Zuschauer*innen reibungslos über die Bühne geht, dauert insgesamt nur wenige Minuten, doch sie ist nur der spektakuläre Auftakt zu einem langen Abend, der zunächst einen ausgedehnten Nachtspaziergang vorsieht.
Über das Nordbad und die Schwere-Reiter-Straße wird das Publikum in Gruppen Richtung Olympiapark geführt. Auf dem Weg führen Tänzer*innen in bunt bemalten Einwegoveralls Choreographien auf. Natürlich nicht einfach neben der Straße, sondern mitten in einer Straßenbaustelle und auf einem Grünstreifen direkt neben den Straßenbahngleisen. Die Straßenbahn kommt, bimmelt einmal und fährt weiter – wieder ist nichts Schlimmes passiert.
Wer bis zum Olympiapark mitgegangen ist, den erwartet schließlich ein Konzert unter freiem Himmel. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Darbietungen ist das weder besonders ausgefallen, noch mutig, sondern einfach nur schön. Das liegt vor allem an Sängerin Amanda Muñoz, deren großartige Stimme die Zuhörenden sofort mitnimmt und nicht mehr loslässt, während diese, auf einer Wiese liegend, noch einmal die besondere Atmosphäre der warmen Sommernächte spüren können.
Ein Konzert im nächtlichen Olympiapark
Und so verlässt man an diesem Abend den Olympiapark in optimistischer Stimmung, auch wenn am Ende der durchaus ausdrucksstarken Choreographien die Dunkelheit nach langem Ringen die Oberhand zu gewinnen scheint. Zum einen ist es ermutigend, dass diese angesichts der Pandemie abenteuerlich anmutende Veranstaltung überhaupt so problemlos gelingen konnte. Das ist in erster Linie das Verdienst der Zuschauer*innen, die sich zu jeder Zeit ihrer Verantwortung für das Vorhaben der Künstler*innen bewusst scheinen und sich mit dem nötigen Ernst bis zum Schluss an die Regeln halten.
Dass es dem Künstler*innenkollektiv gelungen ist, selbst eine befahrene Kreuzung mitten in Schwabing für seine Aufführung zu nutzen, beweist wiederum die ungeahnten und bisher meist ungenutzten Vorteile des Theaters im öffentlichen Raum. Hier fällt nicht nur die vierte Wand, es gibt überhaupt keine klaren Trennlinien mehr und jegliche Distanz des Publikums zur Inszenierung ist aufgehoben, weil niemand mehr sicher sein kann, was echt ist und was gespielt. „Die Städtischen“ haben mit dem kurzen, aber intensiven Bespielen der Kreuzung einen hoffentlich wegweisenden Vorschlag gemacht, wie man Kultur in den öffentlichen Raum integrieren kann.