Online Unileben

Die neue Bequemlichkeit

Warum wir das Onlinestudium noch vermissen werden.

Auf dem Sofa liegend und in eine Decke gehüllt der Vorlesung lauschend: Das mag schön klingen, für die Online-Lehre gibt es aber noch weitaus bessere Gründe. ©Nicolas Friese

Von Samuel Kopp

Zunächst muss ich zugeben, dass ich in dieser Angelegenheit möglicherweise nicht ganz objektiv bin, weil mich der Wechsel zur Online-Lehre im Sommersemester vor einigen Schwierigkeiten bewahrt hat: Im Frühjahr musste ich mich einer größeren Operation unterziehen und hätte daher unter normalen Umständen über die Hälfte des Semesters verpasst. In dieser Hinsicht kam mir die Pandemie also so gelegen wie sonst wahrscheinlich nur Jeff Bezos oder Markus Söder.

Nun, ein halbes Jahr und viele enttäuschte Hoffnungen später, bin auch ich der neuen Normalität der ständigen Einschränkungen längst überdrüssig. Das gilt allerdings nicht für das Studieren von zu Hause aus: Daran habe ich immer mehr Gefallen gefunden, mittlerweile halte ich Online-Vorlesungen in manchen Fällen sogar für die bessere Lösung. Mit dieser Ansicht stehe ich natürlich recht alleine da. Aber ich glaube, man muss hier differenzieren: Nicht das Online-Semester nimmt uns die sozialen Kontakte, sondern die Pandemie. Für die anstehende Debatte, wie die universitäre Lehre in Zukunft aussehen soll, ist diese Unterscheidung wichtig. Denken wir uns Corona einmal weg: Wenn wir uns privat nur wieder ganz normal treffen dürften, im Park, in der Bibliothek, im Theater, wäre vermutlich selbst eine dauerhafte und vollständige Umstellung auf Online-Lehre für die meisten gut zu verkraften.

Waren die Hörsäle vor der Pandemie mit übermotivierten Studierenden gefüllt? Natürlich nicht.

So weit soll und wird natürlich niemand gehen, es gibt ja Lehrveranstaltungen, die in der Präsenzform durchaus ihre Berechtigung haben; bestimmte Seminare oder Sprachkurse zum Beispiel, die von reichlicher Interaktion leben. Was jedoch andere Formate angeht – und damit meine ich vor allem die klassische Vorlesung – will mir auch bei längerer Erwägung nicht einleuchten, welche Vorteile eine Rückkehr in die Hörsäle bringen soll. Von Verfechter*innen der Präsenzlehre wird gerne geltend gemacht, am eigenen Schreibtisch leide die Aufmerksamkeit; selbst an der Motivation, überhaupt teilzunehmen, mangele es zu Hause, doch scheint dies eher einer etwas romantisierenden Vorstellung vom „normalen“ Studienalltag zu entstammen. 

Erinnern wir uns doch einmal, so lange ist es ja noch nicht her, wie es war zu normalen Zeiten im Wintersemester 2019/20. Waren die Hörsäle angefüllt mit eifrig mitschreibenden Studierenden, die 90 Minuten lang ihre ungeteilte Aufmerksamkeit dem Dozierenden widmeten? Vielleicht in Ausnahmefällen oder der letzten Sitzung vor der Klausur. Im Normalfall blickte man, schaute man sich unter seinen Kommiliton*innen um, meist in: müde Gesichter, schlafende Gesichter, leere Gesichter, Gesichter, die im Schein des Handydisplays bläulich schimmerten…

Online-Lehre erlaubt Studierenden mitunter eine ungeahnte Effektivität

Übrigens musste man auch zu diesen Zeiten schon selbstständig die Motivation aufbringen, eine Lehrveranstaltung zu besuchen, eine Schulpflicht für Studierende gibt es nicht und in den meisten Vorlesungen gab es nicht einmal Anwesenheitslisten. Und man sollte doch meinen, dass es geringerer Überwindung bedarf, an einem Wintermorgen um acht Uhr den Computer anzuschalten, als sich schon eine Stunde früher bei Eiseskälte auf den Weg zur Uni zu machen.

Dazu kommt die ungeheure Zeitersparnis durch den Wegfall von An- und Heimfahrt, von den organisatorischen Vorteilen der Arbeit am eigenen Schreibtisch ganz zu schweigen. Das alles erlaubt Studierenden mitunter eine ungeahnte Effektivität (zwei Kurse mehr pro Semester und plötzlich ist man fertig mit dem Nebenfach), bei gleichzeitiger maximaler Bequemlichkeit (man hat schon so manchen Studierenden aus dem Bett heraus geistige Höchstleistungen vollbringen sehen): eigentlich ideale Voraussetzungen für ein glückliches Studium, die jedoch vor dem Hintergrund der coronabedingt widrigen Begleitumstände bisher kaum als solche wahrgenommen werden. 

Vermutlich werden die Vorzüge des Studiums mit Zoom, Moodle und Open-Book-Klausuren erst dann offenbar, wenn wir in einer hoffentlich nahen Zukunft ohne Corona wieder vollständig zur Präsenzlehre zurückgekehrt sein werden. Und dann wird es an der Zeit sein, vom Zwang der Pandemie befreit eine offene Debatte über die digitale Zukunft der universitären Lehre zu führen.

Das Online-Semester spaltet die Gemüter. Die einen finden es klasse, andere wollen schnellstmöglich zurück zum Normalzustand. Hier geht’s zum anderen Teil unserer Pro-Contra Debatte.

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