Wie Online-Vorlesungen meinen Kopf vernebeln.
Von Maja Schmatz
Neun Uhr, mein Wecker klingelt – noch ein letztes Mal umdrehen und aufstehen. Sechs Schritte bis ins Bad, anziehen, Zähne putzen. Drei Schritte zurück zur Kaffee-Maschine in der Küche. Zehn Schritte auf den Balkon, zumindest wenn es einer dieser Morgen ist, an denen ich den Kaffee draußen trinke, weil die Sonne mir auf die Nase scheint. Wenn es einer dieser Morgen ist, an denen ich mir vorstelle, wie die Stadt mit mir aufwacht und lebendig wird. Wenn es einer dieser Morgen ist, an dem Studierende langsam aus ihren Wohnungen in die vollen S-Bahnen strömen und sich in der gesamten Stadt auf die verschiedenen Standorte der Universitäten und Hochschulen verteilen.
Nur, dass heute kein solcher Morgen ist. Heute ist einer dieser Tage, an denen ich fünf Schritte zurückgehe. Fünf Schritte in der Ein-Zimmer-Wohnung an den Schreibtisch, der ans Bettende grenzt, sodass ich – würde der Stuhl beim Wippen nach hinten umfallen – sanft auf der Matratze landen würde. Einer der Morgen, an denen ich nicht, selbst wenn gewöhnlich unmotiviert, das Haus verlasse, mir unterwegs einen Kaffee hole und im Hörsaal mit Kommiliton*innen quatsche. Ich quatsche, aber nur solange, bis der Professor mit dem Laserpointer auf mich zeigt. Heute aber ist ein Morgen, an dem ich schlicht den Laptop aufklappe.
Raumwechsel in Zoom-Zeiten: drei Schritte bis zur Couch, fünf in die Küche und fünf zurück.
Und wenn die Dozierende aus dem Zoom-Meeting mit „Hallo“ grüßt, habe ich Glück gehabt, weil zumindest das Gefühl bleibt, anwesend sein zu müssen. Mit ein bisschen mehr Glück schaue ich in die Gesichter von 20 anderen Studierenden. Ich finde in den Hintergründen Fixpunkte, auf die ich mich konzentrieren kann, während die anderen alle gleichzeitig versuchen, eine Frage zu beantworten. Eine Frage, die im Hörsaal nicht gestellt würde, weil keine Zeit bliebe. Und wenn der Bildschirm schwarz wird, jeder das Meeting verlassen hat und die 30-minütige Pause begonnen hat, dann braucht es nur drei Schritte bis zur Couch. Fünf Schritte in die Küche, um Mittagessen zu kochen und fünf zurück ans Bettende, um sich wieder an den Laptop zu setzen.
90 Minuten später – mit 240 Personen ohne Kamera, mit fünf Übungsaufgaben am selben Schreibtisch, der Esstisch und Arbeitsplatz ist, und fünf Büchern auf einem Stapel – lässt meine Motivation langsam nach. Die asynchrone Vorlesungsaufnahme kann bis nächste Woche warten, weil zwischen „Ich sitze den ganzen Tag vor meinem Computer in der Vorlesung“ und „Ich sitze den ganzen Tag in meiner Wohnung“ keine Gehirnzellen für „Ich lerne den ganzen Tag für die Uni“ mehr übrigbleiben. Nur drei Schritte bis ins Bett. Nur zwei Schritte sind es zu einer Folge der aktuellen Lieblingsserie und nur ein paar Gedanken von der Normalität entfernt, in der sich Menschen treffen, umarmen, über die Ferien reden und an ihrem Laptop Solitär spielen, während der Professor vor seiner Powerpoint-Präsentation steht und redet – nur für das Gefühl, da gewesen zu sein.
Wenn die Wände näher rücken, ist es Zeit, den Computer von sich zu schieben.
Hasse ich also Online-Vorlesungen in meiner Ein-Zimmer-Wohnung, in der ich vom Bett auf den Schreibtischstuhl krabbeln kann? Ja! Denke ich. Kann man sie irgendwie überleben, wenn man in den einen Meter zwischen Bett und Bücherregal eine Yogamatte legt und ab und zu einmal die Perspektive wechselt? Meistens.
Und wenn irgendwann die Wände näher rücken und meine Finger schon lange an der Tastatur festgewachsen sind, dann ist es vielleicht Zeit, den Computer von sich zu schieben, das Zoom-Kaffee-Date nach der Online-Vorlesung abzusagen und sich wieder in die echte Welt außerhalb der eigenen vier Wände zu wagen. Schließlich ist diese Außenwelt samt der Frischluft nur lächerliche 30 Schritte entfernt.
Das Online-Semester spaltet die Gemüter. Die einen finden es klasse, andere wollen schnellstmöglich zurück zum Normaluzustand. Hier geht’s zu dem anderen Teil unserer Pro-Contra Debatte.