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Das Virtuelle Klassenzimmer

Welchen Beitrag können Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) in der Schule leisten und wie würden sie den Kunstunterricht verändern? Fragen an Regina Bäck, die beide Technologien im Rahmen ihrer Promotion untersucht.

Screenshot von einem der AR Projekte © Foto: Regina Bäck

Das Gespräch führte Tabitha Nagy

Was kann AR im Kunstunterricht leisten, im Vergleich zu anderen Medien?

AR bedeutet eine Zusammenführung von digitalen und realen Anteilen im Kameramodus. So kann Architektur umgestaltet, ein Denkmal in das Klassenzimmer gesetzt oder können auch digital städtebauliche Veränderungen durchgeführt werden. Kunstgeschichte kann dadurch sehr direkt und anschaulich vermittelt werden. Via AR kann beispielsweise aus einer zweidimensionalen Skizze ein dreidimensionales oder auch ein bewegtes Bild im Raum schweben.

…und wie ist das bei VR?

Bei VR kann losgelöst vom Ort Weltkulturerbe vermittelt werden. Die Schüler*innen können immersiv in ganze Städte hineinversetzt werden. Aktuell wird beispielsweise an der TUM und anderen Universitäten der Parthenon Tempel in Athen als virtuell begehbare VR-Umgebung rekonstruiert. Neu ist am Gestalten in VR – vor allem auch, wenn man künstlerische aktuelle Positionen betrachtet –, dass sich ein großer Gestaltungsspielraum aufspannt. Grenzen setzt eher die Technologie (Arbeitsspeicher oder Auflösung).
Wichtig ist es, AR/VR-Lernformate mit herausfordernden Aufgabenstellungen und reflektiertem didaktischen Einsatz zu verbinden und nicht nur auf den sogenannten Wow-Effekt anfänglicher Begeisterung zu bauen.

Was wäre ein Projektauftrag für VR/AR an die Schüler*innen?

Ein spannendes Projekt unmittelbar in der Lebenswelt der Schüler*innen ist die Schulgebäudegeschichte. Sie können sich eingeblendet ansehen, wie ihr Gebäude früher aussah, oder es wird selbst eine Stadtführung entwickelt. Im Museum können sie auch mit Fotogrammmetrie 360-Grad-Modelle erstellen, die dann via AR transportabel und mit Informationen zu Symbolik und Geschichte angereichert werden können.
Serious Games im Sinn von spielerischer Ausrichtung von Kunst-/Geschichtsvermittlung kommen gut bei den Schüler*innen an, zum Beispiel kann eine Schnitzeljagd in AR erstellt und von den anderen Schüler*innen anschließend getestet werden.

In AR kann zum Beispiel eine historische Schnitzeljagt erstellt werden © Foto: Regina Bäck

Was wird an Technik benötigt?

VR gibt es auf drei verschiedene Arten: kabelgebunden, kabellos und mobil. Bei den Kabelgebunden muss ein leistungsstarker Rechner mit angeschafft werden, das ist teuer. Bei den Kabelfreien gibt es seit kurzem die Oculus Go, die Oculus Quest und Lenovo Mirage Solo – hier wird kein Rechner mehr benötigt und sie befinden sich im Bereich von 200 bis 450 Euro pro Gerät. Mobil bedeutet ein Smartphone in einer Karton- oder Plastikbrille, was geringe Investitionskosten bedeutet. Es braucht auch nicht jede*r Schüler*in eine Brille, sie können weitergegeben werden. Bei der Software gibt es auch viele Gratisprogramme.

…und für AR?

AR hat geringere Anschaffungskosten, sie funktioniert auf einfachen Smartphones oder Tablets. Letztere werden auch immer mehr zum Standard an Schulen, sie eignen sich besser für AR, da mehr von Umgebung und Content in den größeren Displays sichtbar ist. Stativ und digitale Zeichenstifte sind sinnvolle Anschaffungen, gerade für präzisere Zeichnungen und Schüler*innen mit körperlichen Einschränkungen.

Wie könnte eine Schule die Ausrüstung für VR/AR finanzieren?

Es gibt nun den Digitalpakt: es werden insgesamt 5,5 Milliarden in die digitale Bildungstransformation investiert. Dieses Geld soll auch in technische Ausrüstung, wie VR und AR, investiert werden. Die Investition in die Ausstattung ist generell dringend nötig, denn zwischen staatlichen und privaten Schulen sehe ich hier durchaus einen Unterschied. Hoffentlich werden Förderungen wie der Digitalpakt dieses soziale Gefälle ausgleichen. In den USA kooperieren viele Firmen mit den Schulen und statten diese aus, das könnte auch bei uns kommen.

Die Arbeit mit AR/VR scheint zeitintensiv. Wie lässt sich das in den Schulalltag integrieren?

Das Fach Kunst ist durchaus wenig bestückt. Zum Teil nur eine Stunde pro Woche. Für Projekte mit VR/AR kann mit dem Fach IT kooperiert werden oder auch mit Geschichte. Andere Möglichkeiten sind die Arbeit in P-Seminaren oder auch Projekte mit wöchentlichen Hausaufgaben. Ein VR/AR Projekt könnte auch nach Notenschluss, kurz vor den Sommerferien stattfinden.
Die Schüler*innen sind durchaus interessiert und motiviert, herausfordernde Aufgaben zu erledigen. Das kann auch zuhause mit Gestaltungssoftware zur eigenen Installation nach einer Einführung autonom realisiert werden.

Welche Folgen hat der Einsatz von VR und AR auf die Gesundheit der Schüler*innen?

Design-Projekt mit AR. Bewegte und dreidimensonale Zeichnungen sind hier ganz leicht möglich © Foto: Regina Bäck

Die Forschung zu den Auswirkungen der Technik auf die Kinder und Jugendlichen ist noch nicht weit genug fortgeschritten. Die bisherigen Studien zeigen, dass das im virtuellen Raum Erlebte durchaus starke Effekte auf physiologischer, aber auch psychologischer Ebene auf User*innen hat. Wir wissen aktuell aufgrund fehlender Langzeitstudien noch wenig zu nachhaltigen Einflüssen auf User*innen.
Auf physiologischer Ebene gibt es  die Cyber Sickness. Diese taucht bei immersiven Erlebnissen mit einer Diskrepanz zwischen eigener Körperposition und Sinneseindrücken auf. Symptome sind Schwindelgefühl, Übelkeit und Desorientierung.

In welchen Klassenstufen würde der Umgang mit VR/AR einsetzen?

VR-Brillen werden bis dato mit Stufen der Altersfreigabe zwischen zwölf und 14 Jahren angeboten. Als Lehrkraft würde ich erst ab der achten Klasse VR im Unterricht einsetzen. Je nach Gamingvorerfahrung und medialen Gewohnheiten empfehle ich einen langsamen Einstieg mit kurzen Zeitfenstern.

Bisher sind die meisten Schulen ja eher kritisch gegenüber neuen Medien eingestellt. Welche Chancen sehen Sie für VR/AR im normalen Unterricht?

Es gibt eine Kluft zwischen der Lust an der Arbeit mit Technik auf Schüler*innenseite und einer fehlenden Expertise der Lehrenden, solche Projekte zu begleiten. Letztere fragen sich anders als IT-Expert*innen natürlich auch, welches Lernziel angestrebt wird – ob die Technik zielführend oder nur Spielerei ist. Lehrer*innenausbildung wird als Ländersache gesehen. Aktuell sollen pädagogische Konzepte vorgelegt werden, um Geld aus dem Digitalpakt ausgeschüttet zu bekommen.

Sehen Sie bei der Ausbildung der Lehrenden Fortschritte?

In der Konzeptentwicklung, aber auch im konkreten Einsatz der Geräte mit medienpädagogischer Expertise werden aktuell die Lehrkräfte noch zu wenig ausgebildet beziehungsweise in der Konzeptualisierung alleingelassen. Doch mit der stärkeren Gewichtung des Fachs IT und dem Digitalpakt sind erste Schritte in Richtung Bildung in einer digitalisierten Welt vollzogen.
Möglichkeiten zur Reflexion und Erprobung digitaler Formate sind essentiell, denn die Schüler*innen werden aktuell nicht adäquat auf digitale Phänomene im Berufs-/Privatleben vorbereitet. Darin sehe ich ein großes Bildungsdefizit. Es vollzieht sich zudem gerade ein pädagogisch-kultureller Wandel hin zum schülerzentrierten Unterricht, in dem Medienkompetenz besser vermittelbar ist.

Wann sollte eine Mediensensibilisierung der Schüler*innen beginnen?

Schon im Grundschulalter. Es gibt nach Baacke vier Seiten von Medienkompetenz: Was weiß ich über das Medium, kann ich es nutzen, kann ich kreativ damit umgehen und – was oft etwas vernachlässigt wird – kann ich es medienethisch-kritisch reflektieren, was hat es für eine Auswirkung auf mich und die Gesellschaft? Zu Letzterem gehören auch Suchtverhalten, gesundheitliche Risiken und juristische Fragen, wie die Rechte an Content und die Abgabe dieser. Viele medienethische Aspekte sind noch nicht in Hinblick auf AR/VR ausdifferenziert beziehungsweise fundiert in Langzeitstudien erforscht.

Können Eltern Vorbilder hinsichtlich des Umgangs mit digitalen Medien sein?

Über Modelllernen ist Medienkompetenz nicht wirklich zu erreichen, da die Eltern nicht die digitale Generation sind, die den Umgang mit digitalen Medien vorleben kann. Schon in der Grundschule sollte daher damit begonnen werden. Mit Blick auf Mediensucht wäre es sinnvoll, ein Bewusstsein für das eigene Nutzungsverhalten anzubahnen, wie über ein Tagebuch oder eine App, die die verbrachte Zeit auf Social Media misst.

Regina Bäck © Foto: Marlene Pruss, Philip Jedenyi

 

 

Regina Bäck hat an der LMU Kunst und Englisch auf Realschullehramt studiert und promoviert derzeit an der Katholischen Universität Eichstätt und der Katholischen Stiftungshochschule in München. Sie untersucht die Spezifik von VR und AR als Gestaltungs- und Vermittlungsmedium beziehungsweise die medienethischen Dimensionen. Diese Elemente integriert sie in eine Didaktik der AR im fächerverbindenden Projekt (Kunst/Geschichte/IT).

Kunst im Kontext

KUNST IM KONTEXT war bis Ende des Sommersemesters 2019 eine Kooperation mit dem Department Kunstwissenschaften der LMU. Studierende der fünf Studiengänge Theaterwissenschaften, Kunstgeschichte, Kunstpädagogik, Musikwissenschaften und Musikpädagogik rezensierten Ausstellungen, Konzerte und Theaterinszenierungen, berichteten über berufliche Perspektiven nach dem Studium und schrieben über alles, was sonst noch so los ist an der Isar. Die Texte entstanden im Rahmen von Seminaren des Departments und in einem freien Redaktionsteam.

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