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Auf einen Tee mit Oliver Jahraus

Der Germanist über die Literaturwissenschaft, ihre Medien und kognitiv übersichtliche Literaten

„Ohne Literaturwissenschaft gibt es keine Literatur!“
Foto: Cora Kosch

Eine ruhige Ecke im Barer 61. Oliver Jahraus sitzt auf einer übergroßen schwarzen Ledercouch, deren Rückenlehne von einem silbernen Flügelpaar gekrönt ist. Wir bestellen Kaffee, Jahraus nimmt einen Apfel-Honig-Ingwer Tee. In gemütlicher Plauderatmosphäre verrät er, warum er im Kino immer auf die Uhr schaut und was seine eigenen literarischen Ergüsse mit dem Gold in Fort Knox zu tun haben.

Herr Jahraus, welches Buch lesen Sie derzeit?

Ich lese gerade von Philip K. Dick Marsianischer Zeitsturz. Ich bin ein großer Bewunderer von Philip K. Dick. Sie kennen vielleicht diesen Ausspruch von Art Spiegelman: Was Kafka, mein anderer Hausheiliger, für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war, war Philip K. Dick für die zweite. Ich finde es schon sehr bemerkenswert, welche Themen er vermittelt, beispielsweise Drogenkonsum und Transzendenzerfahrungen und die verschiedenen Bewusstseinsebenen, die man dabei erreichen kann.

Wäre es Ihnen lieber gewesen, ich hätten Sie nach Ihrem letzten Film gefragt?

Nein, aber beim Film muss ich ein bisschen zögerlicher antworten. Es ist wie bei der Literatur. Man erforscht dieses Medium, weil es die eigene große Leidenschaft ist, aber die beruflichen Anforderungen bringen es dann mit sich, dass man gar nicht mehr zu seinem eigenen Objekt durchstößt. Es ist schon ziemlich lange her, dass ich im Kino war. Wenn, dann schaue ich die Filme auf Konserve. Letzte Woche war ich in Paris auf einer Keyserling-Tagung und habe mir dort die Verfilmung eines der Hauptwerke Keyserlings angeschaut. Das war eine fontanesche Geschichte um Ehebruch und zerstörte Liebe, eine ZDF-Produktion, Wellen, wenig aufregend.

Die Frage zielte auch ein bisschen in die Richtung einer Hierarchisierung. Gibt es bei Ihnen persönlich eine qualitative Unterscheidung zwischen Literatur und Film?

Das kann ich rundheraus abstreiten, eine Hierarchisierung gibt es nicht. Es kann schon mal passieren, dass man sich mehr auf dieses oder mehr auf jenes Medium konzentriert, aber ich kann Ihnen wirklich nicht sagen, welches Medium mir lieber ist. Ich sehe natürlich, dass viele zum Hierarchisieren neigen. Es gibt ja zum Beispiel den alten Topos, dass die Literaturverfilmung immer schlechter sei als die zugrundeliegende Literatur. Das mag für Einzelfälle zutreffen. Ich sehe das aber mehr als Bereicherung für mich, dass ich zwischen diesen beiden Medien hin und her switchen kann.

Sie betonen immer, dass die Literatur ein gutes Medium darstellt, um Funktionsstrukturen von Systemen, beispielsweise die einer Gesellschaft, offenzulegen.

Ich glaube, dass das überhaupt die Funktion von Medien ist, deswegen haben sich Medien gebildet. Wahrscheinlich hat sich diese Funktion sogar noch deutlicher seit der Moderne herauskristallisiert. Medien sind gigantische Agenturen und Reflexionsorgane. Sie verhandeln natürlich entscheidende Fragen, und zwar solche Fragen, die wir eigentlich in unserem alltäglichen Kontext nie stellen würden, weil sie uns zu selbstverständlich sind. Beispielsweise: Wie funktioniert eigentlich Gesellschaft, was ist ein Mann, was ist eine Frau, wie verhalten sich Geschlechter zueinander, was sind Normen und Werte, warum gelten sie?

Kann der Text noch mehr? Kann er andersherum selbst Einfluss auf solche Strukturen nehmen und grundlegend etwas verändern?

Ja, absolut! Indem Medien solche Fragen aufgreifen, reflektieren, Antworten geben, verändern sie natürlich genau die Struktur, auf die sie reagieren. Das ist ein hochgradig interaktiver Prozess, und ich glaube, es ist die absolut spannendste Aufgabe jeder Medien- und Kulturwissenschaft, das nachzuzeichnen.

Nach so vielen Jahren in der Germanistik, stellen Sie sich manchmal noch die Sinnfrage? Wozu eigentlich das Ganze?

(Überlegt kurz) Das ist natürlich schwierig. Sagen wir mal so, die Frage stelle ich mir permanent, aber nicht unbedingt bezogen auf die Germanistik. Ich stelle mir nicht die Frage, warum ich jetzt eigentlich Professor bin. Ganz im Gegenteil, ich habe es nie bereut, ich stehe jeden Morgen auf und denke mir: Was kann ich heute wieder entdecken! Natürlich gibt es auch Tage, da bin ich etwas angespannt durch Aufgaben, die ich mir nicht immer selbst auferlegt habe, Korrekturarbeiten oder ähnliches. Aber grundsätzlich denke ich mir, was für ein grandioses Privileg es darstellt, diesen Beruf ausüben zu dürfen.

Muss sich vielleicht die Germanistik selbst die Sinnfrage öfter stellen?

Wenn man zurückblickt auf die Geschichte der Germanistik oder der Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum, dann kann man festhalten, dass die Sinnfrage sogar in ganz erheblichem Umfang immer wieder gestellt wurde. Als Jahre nach dem zweiten Weltkrieg die Reinstitutionalisierung der klassischen Werte der Literaturwissenschaft als Bewahrerin des Guten, Schönen und Wahren erschöpft war, kamen Fragen nach der gesellschaftlichen Funktion der Germanistik verstärkt wieder auf. Das war eine Phase der intensiven Politisierung der Germanistik, von der ich meine, dass man sie heute mit historischem Abstand kritisch sehen muss. Wenn wir einen normativen Sinnbegriff voraussetzen, kann ich diese Frage rundheraus bejahen: Natürlich muss die Germanistik jederzeit den Kontext, in dem sie steht, ja mehr noch, den Kontext, der sie überhaupt erst ermöglicht, permanent kritisch reflektieren. Wozu also ist Literaturwissenschaft da? Meine Antwort: Die Funktion der Literaturwissenschaft hat mit dem Gegenstand der Literatur zu tun. Wenn Literatur ein gesellschaftliches Reflexionsmedium ist, dann ist die Literaturwissenschaft genau jene Instanz, die permanent diesen Reflexionsprozess begleitet und sicherstellt. Ohne Literaturwissenschaft keine Literatur!

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