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Auf einen Tee mit Oliver Jahraus

„Über kurz oder lang würde die Literatur ohne Literaturwissenschaft absterben“
Foto: Cora Kosch

Kann denn ein solcher Dialog zwischen den Kunstschaffenden und den Wissenschaftlern, wie er beispielsweise auf dem Münchner Literaturfestival geführt wird, für eine der beiden Seiten fruchtbar sein oder haben solche Veranstaltungen lediglich Vermittlungszwecke?

Nein, das glaube ich nicht. Die Ernüchterung macht sich zwar auch da breit, aber es gibt in der Tat Konstellationen, die nach beiden Seiten fruchtbar sein können. Das ist immer dann gegeben, wenn tatsächlich beide Seiten wissen, worüber sie sprechen. Es gibt gerade bei Autoren, die dieses Wissen nicht haben, diesen hermeneutischen Komplex, dass da einer kommt und über sie redet und dann den Anspruch hat, der über den eigenen hinausgeht. Gemäß dem Diktum: Einen Autor besser verstehen, als er sich selbst versteht. Die Autoren reagieren dann meist mit gewissen Abwehrmechanismen, die soweit gehen, einen gar nicht vorhandenen Anspruch abzuwehren. Aber in einer positiven Variante können Autoren selber ihre eigenen Texte in einer Art kontextualisieren, dass es für Literaturwissenschaftler äußerst spannend und interessant wird, und zwar so spannend und interessant, dass diese dann selber wiederum die Kontextualisierungen ihrerseits kontextualisieren können, und dann ist man wirklich in einem wunderbaren Wechselspiel der fundierten Diskussion über Literatur.

Aber Sie als Literaturwissenschaftler müssen mit den Produkten dieser „kognitiv übersichtlichen Literaten“ ja heute und auch in Zukunft umgehen.

Hier muss man in der Tat differenzieren. Natürlich gibt es solche Autoren, die aber teilweise fantastische Texte schreiben, weil sie ein Gespür für ihre Themen haben und ein ästhetisches Empfinden, das sie vielleicht gar nicht explizit artikulieren können, weil ihnen die Mittel einer Beschreibungssprache dazu fehlen. Da sehe ich also gar kein Problem. Der Text ist das Entscheidende. Das einzige, was mich an der zukünftigen Germanistik stört, ist die Tatsache, dass diese nächste Generation wahnsinnig tolle Texte interpretieren kann, die jetzt noch gar nicht geschrieben sind und die ich selbst noch gar nicht lesen kann (lacht).

Sehen Sie durch die Bologna-Reformen und die damit einhergehende europaweite Gleichmachung die Selbstständigkeit der Studenten gefährdet? Droht der Universität die komplette Verschulung und den Studenten somit die totale Unmündigkeit?

Das ist ein sehr heikles Thema. Ich war ja 2 Jahre lang Bologna-Beauftragter der LMU und in dieser Zeit musste ich mich des Bologna-Prozesses annehmen. Auch ich habe sehr für den Bologna-Prozess getrommelt, muss aber mittlerweile sagen, dass ich doch erheblich ernüchtert bin. Es gibt in dieser modularisierten Struktur des BA und MA Elemente, die sich doch wesentlich negativer auswirken, als ich dies ursprünglich gedacht habe. Wenn ich an den Magister zurückdachte und an die Leute, die ihr Studium abgebrochen haben, weil sie geglaubt haben, dass sie das Studium nie durchstehen würden, meinte ich, es wäre von Vorteil, einen früheren Studienabschluss einzuführen. Was ich allerdings nicht in der Deutlichkeit bedacht habe, ist die Wirkung dieses frühen Studienabschlusses auf das Studium davor. Wir haben ja jetzt unsere Studienstrukturen einerseits stark dereglementiert, dennoch sind sie immer noch stark reglementiert. Man kommt bei so einer kurzen Studiendauer um ein gewisses Reglement gar nicht herum. Dieser frühe Studienabschluss hat eine negative Strahlkraft auf das kurze Studium. Die Studierenden sind von Anfang an auf diesen frühen Studienabschluss geradezu manisch fixiert. Es gibt keine Möglichkeit eines Freiraums, um etwas auszuprobieren. Das ernüchtert mich sehr. Es ernüchtert mich auch sehr, dass dies Eingang gefunden hat in die sozusagen mentale Struktur der Studierenden. Viele achten nur mehr auf ECTS-Punkte und möglichst gute Leistungen. Das Interesse an literaturgeschichtlichen Problemen geht dann zurück, und das betrachte ich als ein immenses Problem. Der Bologna-Prozess in seiner jetzigen Form ist nicht zu Ende gedacht, da muss noch etwas kommen.

Um die Studierendenschaft mal zu verteidigen: Ist der pessimistische Vorwurf des uninteressierten und nur auf Punkte bedachten Studenten nicht ein Urteil einer vorigen Generation an die Kommende?

Das kann ich auch nicht in Abrede stellen, solche Strukturen können sich natürlich wiederholen. Ich bin jetzt in dem Alter, in dem meine Lehrer waren, als ich zu studieren begann. Ich merke schon, dass ich selbst ganz eigentümliche Verhaltensweisen reproduziere. Wenn ich das merke, bin ich sehr peinlich berührt, halte kurz inne, lasse den Blick nach hinten schweifen, um zu überprüfen, ob das jemand gemerkt hat. Ja, vielleicht ist dies wirklich ein Generationenproblem oder zumindest ein Effekt des Zusammenwirkens von Generationen.

Sollten die Geisteswissenschaften ihren Studierenden vielleicht mehr praktische Inhalte vermitteln, da die theoretische Bereitschaft ja offensichtlich immer mehr sinkt? Sollten Kurse zur journalistischen Literaturkritik oder ähnliches angeboten werden?

Die Antwort ist ein ganz klares Nein. Die journalistische Literaturkritik beispielsweise ist ein ganz anders Fach, das die Germanistik nicht abdecken kann. Würde sie das tun, dann würde die Germanistik dilettieren. Umgekehrt kann man sagen, die Geisteswissenschaft ist ein bestimmtes Wissenschaftsprogramm. Wird dieses irgendwann einmal nicht mehr nachgefragt, dann wird die Germanistik untergehen. Das ist jedoch kein Problem der Germanistik oder des Wissenschaftssystems, sondern der Gesellschaft, in der dann eine Germanistik fehlt.

Die Geisteswissenschaften erfreuen sich auch in Zeiten berufsperspektivischer Schwarzmalerei größter Beliebtheit unter jungen Menschen. Braucht die Welt denn all diese Geisteswissenschaftler?

Mindestens ebenso sehr wie die Naturwissenschaftler, die an den Universitäten ausgebildet werden. Stellen Sie sich nur eine Welt ohne Geisteswissenschaften vor. Ich denke, die Geisteswissenschaften müssen auch nicht in die Figur der Selbstlegitimation oder Selbstreklame eintreten. Geisteswissenschaftler müssten eigentlich wissen, dass sie schlechterdings unverzichtbar sind.

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