Interview Online Unileben

Auf einen Tee mit Oliver Jahraus

Wenn sie Ihren Kontext selbst in Frage stellen muss, ist die Literaturwissenschaft dann nicht eine Kamikaze-Wissenschaft?

Die Wissenschaft funktioniert anders als japanische Kampfflieger. Vor allem bei der Literaturwissenschaft lässt sich das gut beobachten. Die Selbstinfragestellung ist ein hochgradig produktiver Prozess. Bezogen auf die Theorieentwicklung der letzten Jahrzehnte: Nur die Selbstinfragestellung hat die Literaturwissenschaft voran gebracht. Ist die Literaturwissenschaft demnach eine schizoide Wissenschaft? Naja, vielleicht schon, aber eine, die damit ziemlich gut und produktiv umgehen kann.

Foto: Cora Kosch

Die Germanistik hat mit verschiedenen Beschränkungen zu kämpfen. Zum einen die relative Beschränkung auf die deutsche Sprache, zum anderen die Beschränkung auf das Feld der Literaturwissenschaft. Wie wichtig ist Interdisziplinarität?

Da muss man ein wenig zurückgehen. In der Komparatistik steckt ja ein vergleichendes Moment zwischen verschiedenen Nationalliteraturen. Ich glaube, das ist eine Ausdifferenzierung, die sich nicht mehr eins zu eins im Feld der Wissenschaft widerspiegelt. Es gibt keinen einzigen lebenden deutschsprachigen Autor, so meine Behauptung, der selber nur deutschsprachige Texte gelesen hat. Auf dem Feld der Literaturproduktion gibt es keine nationale Literatur. Das bedeutet auch, dass es eine Nationalphilologie nicht gibt. Die Unterscheidung in Nationalphilologie und in Komparatistik ist lediglich eine pragmatische Arbeitsteilung von Wissenschaft und hat überhaupt nichts mehr mit unserem Gegenstand zu tun. Natürlich werde ich Fontanes Effi Briest immer im Kontext von Flauberts Madame Bovary und Tolstois Anna Karenina lesen.

Wie sieht es mit einer Einbindung naturwissenschaftlicher Methoden in die Literaturwissenschaft aus, beispielsweise was neurologische Untersuchungen des Rezipienten beim Medienkonsum angeht? Kann so etwas hilfreich sein?

Das ist die wahre Bedeutung von Interdisziplinarität. Damit kenne ich mich durch meine Arbeit am Humanwissenschaftlichen Zentrum der LMU gut aus, das ja gerade diese breite Interdisziplinarität ermöglicht. Bei solchen Fragen mahne ich allerdings zur Vorsicht. Die Wissenschaften treffen mit einem ganz erheblichen Kompetenzniveau aufeinander. Wenn man allzu schnell eine solche Einbindung genuiner Methoden über Wissenschaftsstrukturen hinweg vornimmt, dann wandelt man schnell auf dem Feld des Dilettantismus. Es trägt wenig zur Literaturwissenschaft bei, wenn man neurologische Prozesse beim Literaturkonsum untersucht. Was ich in solchen interdisziplinären Konstellationen gelernt habe, ist Folgendes: Das Wichtigste ist nicht die fröhliche Verbrüderung von Wissenschaften, sondern im Gegenteil, der Respekt vor den anderen Wissenschaften und deren Kompetenzniveau.

Die literaturwissenschaftliche Arbeit wird vielleicht aus einer Art Unverständnis heraus schnell als geistiges Spielchen abgetan. Treffen Sie auf solche Erfahrungen?

Nein, auf solche Erfahrungen treffe ich nicht, weil ich niemandem erkläre, was ich hier mache. Warum sollen wir uns darüber wundern, dass unsere Freunde nicht auf Anhieb verstehen, was wir machen? Wir sind eine hochkomplexe Wissenschaft mit einem immensen Komplexitätsniveau, und wenn Laien dann komisch gucken und sagen, das sei ein geistiger Höhenflug, dann würde ich sagen, das ist eine erwartbare Reaktion. Wären wir Atomphysiker und würden unseren Freunden die subatomare Ebene des Atommodells erklären, dann würden die Amateure auch komisch gucken. Von daher ist es schon ganz gut, dass sie sich wundern. Wir sind eine Wissenschaft und sollen das auch bleiben. Es ist auch gar nicht unsere Aufgabe, für jedermann verständlich zu sein.

Auch wenn Fachfremde die Naturwissenschaften nicht verstehen, so würden sie ihnen dennoch einen Nutzen unterstellen. Bei der Literaturwissenschaft ist das oft anders.

Der Begriff des Nutzens ist ein Mythos auf beiden Seiten. Man kann das ja durchspielen: Da ist diese Vorstellung, dass Naturwissenschaftler eine Erfindung machen und kurz darauf gibt es eine neue technische Entwicklung, die das Leben revolutioniert. Das ist jedoch eine absolut naive Vorstellung von Wissenschaft. So weit ich einen Einblick habe, ist ein Großteil der Naturwissenschaft nutzlos, und zwar im allerbesten Sinne, weil sie Grundlagenforschung ist. Dann kann man zur Geisteswissenschaft übergehen: Braucht die Welt eine weitere Thomas-Mann-Interpretation? Man kann die Frage nach dem Nutzen leicht mit der Antwort ‚Nein‘ entscheiden. Wenn das aber tatsächlich so ist, dann könnten wir einfach die Literaturwissenschaft abschaffen. Was würde dann passieren? Dann würde das Reflexionsorgan des Reflexionsorgans Literatur fehlen. Es wäre also nichts mehr da, was den Begriff der Literatur bestimmt. Über kurz oder lang würde auch die Literatur absterben. Dadurch würde die Gesellschaft auf kurz oder lang nicht mehr funktionieren, wir würden uns in Illiteraten verwandeln – und untergehen. Wenn also Literatur notwendig ist, dann auch Literaturwissenschaft. Man kann diesen Mythos des Nutzens auf beiden Seiten dekonstruieren. Das Problem dabei ist natürlich, dass die Perspektive des Nutzens eine gefährliche Außenperspektive auf Wissenschaft ist.

Spricht man von der Germanistik, denken die meisten Menschen automatisch an Literatur. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen den verschiedenen Teilbereichen der Germanistik? Gibt es da eine Hierarchie?

Es ist kein Wunder, dass man mit Germanistik die NDL verbindet. Die Linguistik gerät dabei oft in den Hintergrund, was in der Wissenschaftsgeschichte begründet liegt. Es gibt eine komparatistische sowie eine nationalphilologische Sprachwissenschaft, diese Unterscheidung ist jedoch gegenstandslos geworden, weil sich auch die germanistische Linguistik sich in einem ganz erheblichen Umfange internationalisiert hat. Heutzutage ist die germanische Linguistik wirklich nur noch ein Ordnungsprinzip unserer Institution. Das bedeutet umgekehrt, dass sich die Linguistik aus dem Korsett der Germanistik befreit hat. Die Germanistik besteht eigentlich nur mehr aus der Literaturwissenschaft, weil die Linguistik konzeptionell anders funktioniert. Die Mediävistik ist ein besonderer Fall, da sie es mit dem Deutschen in einer anderen Sprachform zu tun hat. Hier ist also schon ein gewisser Teil an Linguistik nötig. Aber auch da sind alle interessanten Forschungsfragen, soweit ich das überblicke, der letzten Zeit auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft über nationalphilologische Grenzen hinaus entwickelt worden.

Ein Professor steht ja immer etwas zwischen den Stühlen, mit einem Bein steht er in der Forschung, mit dem anderen in der didaktischen Vermittlung. Wie gehen Sie mit dieser zweifachen Ausrichtung um?

Realistisch betrachtet, ist die Lehre nicht unbedingt das Feld, in dem man glücklich wird, weil man sehr stark in Anforderungen eingespannt ist, die irgendwo her kommen, aber nicht unbedingt aus dem Fach selber. Von daher kann man sagen, die Forschung ist interessanter, weil da die äußeren Strukturen, die einem oktroyiert werden, weniger maßgeblich sind. In einer idealen Welt müsste das aber ein wunderbares Zusammenspiel sein, etwas zu erforschen und dieses dann anderen zu vermitteln sowie die Erfahrung des Vermittelns rückwirken lassen auf das, was man weiterhin erforscht.

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