Oscar Wildes Bunbury oder von der Notwendigkeit, Ernst zu sein im Cuvilliéstheater
Spontane Assoziationen zum Vornamen Ernst: Großvater, Lehnsessel, Herr Jünger, Gegenteil von heiter oder gelassen. Ernst ist nicht unbedingt der exotischste Vorname, kein Name für einen aufbrausenden Jungspund oder einen rassigen Liebhaber – oder etwa doch?
Gespannte Stimmung im festlich erleuchteten Saal: Projizierte Insekten krabbeln über die riesige Videoleinwand, die den ganzen hinteren Teil der Bühne einnimmt. Licht aus, Saxophonmusik an. Auftritt des Lebemanns aus der Großstadt: Lukas Turtur alias Mr. Algernon Montcrief empfängt champagnertrunken seinen Freund – Auftritt des Lebemanns aus der Provinz: Gunther Eckes alias Mr. John Worthington. Wie der aufmerksame Leser feststellen wird: Keiner trägt den Namen Ernst. Doch beide tragen ein Geheimnis mit sich herum: eines, das ihnen die Flucht aus dem langweiligen Alltag ermöglicht und ihnen erlaubt, frei von Zwängen ihren Trieben und Gelüsten nachzugehen. Algernon erfindet seinen todkranken Freund Bunbury, den häufig „besuchen“ muss – um in dessen Rolle ungestört dem Chaos Londons zu entkommen und das Landleben zu genießen.
In ähnlicher Manier verteidigt John seine Selbstbestimmtheit. Für seine Ausflüge in die Großstadt hat er einen Bruder namens – man höre und staune – Ernst, den er bisweilen dringend „aufsuchen“ muss, um ihn von seiner Verschwendungssucht zu befreien und aus Schwierigkeiten zu retten. Alles könnte so schön sein, wäre da nicht die Liebe. John verliebt sich in der Stadt (als Ernst) in Ms. Gwendolen Fairfax, und Algernon schlüpft auf dem Land in die Rolle von Johns Bruder Ernst, um Johns Mündels Cecily näher zu kommen. So verschieden die beiden Frauen auch sind, sie streben das gleiche Ziel an: Sollten sie jemals heiraten, dann nur einen Ernst. Kein Name weckt so tiefes Vertrauen, kein Mann bringt sie so sehr zum „Vibrieren“ wie der Klang dieses Vornamens. Und im Bemühen, diesem Wunsch wahrlich gerecht zu werden und das eigene Gesicht zu wahren, nehmen die beiden Dandys einiges auf sich – von der Tortenschlacht bis zur zweiten Taufe. Denn im Leben, so ist den Lebemännern klar, ist bisweilen der Stil wichtiger als die Wahrheit.
Stil hat auch das Bühnenbild: Auf der imposanten Leinwand im Hintergrund schweben Collagen aus Großstadtpanoramen vorbei, wehen Palmen und strahlen Wolkenkratzer. Kurzclips untermalen die Gesangseinlagen der Schauspieler. Währenddessen zeigen die Darsteller vollen Körpereinsatz: stürzen vom Fahrrad, liefern neben spritzigen Wortgefechten auch Kuchen- und Tennisballschlachten, werfen mit Felsbrocken und fallen sogar mehrmals von der Bühne, während sie sich den Entkupplungsmaßnahmen von Algernons omnipräsenter Tante zu widersetzen suchen. Oscar Wildes Komödie aus Identitätswirren, Namensfindungsschwierigkeiten und vertrackten Familienverhältnissen muss bis zum Ende noch Schießereien, tote Tiere, Ukulele- wie Flöteneinlagen, Helikopter und einen lüsternen Kirchenvertreter durchleben, ehe der Vorhang fällt. „Ich hab mir einen Ast gelacht und das Chaos genossen“, resümiert Walter Elste. „Und das Tempo ist einfach der Wahnsinn.“ Für den versierten Theatergänger erzeugt die übertriebene Inszenierung eine Verfremdung, „in der auch Gesangseinlagen und Maschinengewehre zu einer glänzenden Aufführung beitragen“. Auch Walters Freund Dieter hat sich gut amüsiert. „Teilweise ist das alles ein bisschen zu dick aufgetragen“, merkt er an. „Aber die Dialoge sind wirklich sehr geistreich. Kurz: Der große Wurf stimmt.“