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Shoppingmall sticht Straßenmarkt

Sonntag ist Markttag in Tarlabaşı. Foto: Katrin Fuchs.

Istanbuls Einwohner kämpfen gegen die Gentrifizierung

Der kleine Holzwagen mit dem goldenen, pyramidenförmigen Teebehältnis rollt die Ömer Hayyam Caddesi hinunter, die Hauptschlagader meines Viertels im Herzen Istanbuls. Ein alter, grauhaariger Mann mit Schnauzbart lehnt sich gegen die Steigung der Straße, um den schweren Radwagen unter Kontrolle zu halten. Es ist Sonntag, und Sonntag ist Markttag in Tarlabaşı. Das ganze Viertel, in dem ich hier in Istanbul wohne, scheint auf den Beinen zu sein, um Besorgungen zu machen. Obst und Gemüse sind unglaublich billig und die Simit, die herzhaft duftenden Sesamkringel, kosten hier so wenig wie nirgendwo sonst. Bei Preisen jenseits der touristischen Vorstellungskraft fühlt man sich wie in einem anderen Kosmos. Ich laufe vorbei an kleinen Holzständen mit Halva und weißem Käse, offenem Tee und Oliven. Türkisch wird hier natürlich gesprochen, aber nicht ausschließlich. Auch Kurdisch und Arabisch mischen sich darunter, ab und zu sogar Deutsch oder Englisch: Wie jeder ursprüngliche Ort hat sich auch dieser Markt längst als billiger Einkaufsort für ausländische Studenten herumgesprochen.

Tarlabaşı– der Schandfleck Beyoğlus: Das verrufene Viertel, in dem früher Griechen und Zigeuner wohnten, heute hauptsächlich Kurden und andere marginalisierte Ethnien, liegt nur einen Katzensprung entfernt von der gentrifizierten İstiklal-Einkaufsstraße, getrennt durch einen sechsspurigen Boulevard. Hier findet sich ein kleiner Rest Authentizität inmitten der vibrierenden, immer lauten und niemals schlafenden Innenstadt Istanbuls. Ein echtes Kleinod: keine erholsame Oase, aber ein Gassengewirr mit klapperndem Teegeschirr und den kleinen Çay-Stuben, in denen immer nur Männer sitzen, die Okay oder Tavla spielen, viel rauchen und tief in ihre Gespräche vertieft sind. Gedränge, Geschrei, Früchte, Gemüse, Küchenutensillien, Kleinkram. Kein schicker Markt mit der besten und schönsten Auswahl in den saubersten Straßen, aber ein liebenswerter Viertel-Markt mit überreifem Obst in Kisten, welches am besten ganz schnell vor dem nahenden Fäulnistod gegessen wird. Frauen mit Kopftuch in Kittelschürzen drängen sich dicht an dicht an mir vorbei, unter den von Straßenseite zu Straßenseite gespannten Zeltplanen der Marktlandschaft.

Kinder spielen in einer Gasse von Tarlabaşı. Foto: Katrin Fuchs

Ein Viertel mit bewegter Geschichte

Tarlabaşı kann auf eine lange und bewegte Geschichte zurückblicken. Anfang des 20. Jahrhunderts siedelten sich hier die ersten Griechen an, gefolgt von Armeniern und Juden. Mit dem Vertrag von Lausanne im Jahre 1923 und dem Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei flohen die meisten osmanischen Griechen aus der neu gegründeten türkischen Republik. D zurückgebliebenen litten ab 1955 und in den folgenden Jahren des lange andauernden Zypern-Konflikts unter Progromen, die die nichtmuslimische Istanbuler Bevölkerung hart trafen. Viele griechische Häuser, Läden und Kirchen in Tarlabaşı wurden geplündert und teilweise komplett zerstört. Danach verließen fast alle Griechen die Stadt. Heute lebt nur noch ein kleiner Teil der ursprünglichen Nichtmuslimen in Tarlabaşı.

Doch den Markt und das Viertel wird es in dieser Form wohl nicht mehr lange geben. Das Vorhaben 360° Tarlabaşı ist ein von der Regierung Erdoğans gefördertes Gentrifizierungs-Projekt, welches den „Schandfleck“ in ein neues Banken- und Einkaufsviertel verwandeln soll. Die alten, verfallenen Häuser sollen abgerissen werden und schicken Shoppingmalls und Bürokomplexen weichen.

Erdoğan plant im ganz großen Stil: eine dritte Brücke über den Bosphorus, ein Unterwasser-Tunnel, der ab 2015 Europa mit Asien verbinden soll, und das in seinen Anfängen steckende Riesenprojekt 360° Tarlabaşı. Alles steht im Zeichen des wirtschaftlichen Wandels Istanbuls zu einer wirtschaftlich starken Metropole. Die zweitgrößte Stadt Europas verändert sich derzeit wie keine zweite auf dem Kontinent. Die von zentraler Stelle verordnete Modernisierung auf Kosten der letzten Grünflächen treibt die Menschen auf die Straßen. Die Polizei setzt zum ersten Mal seit September wiederholt Tränengas ein.

Ende Dezember kamen auf der anatolischen Seite Istanbuls tausende Menschen zusammen, um gegen die Stadtplanungspolitik der Regierung und die kurz zuvor aufgedeckten Korruptionsfälle bekannter Politiker und Ökonomen zu demonstrieren.

Die Menschen kämpfen gegen die Folgen der seit den 80er Jahren andauernden Privatisierung öffentlicher Interessen. Jeder wollte seit damals ein Stück vom Kuchen: Das Ergebnis ist eine chaotische Megastadt mit 15 Millionen Einwohnern, die längst nicht alle in schicken Häusern und Apartments wohnen, sondern auch in sogenannten Gecekondus, kleinen und teilweise ohne Baugenehmigung hochgezogenen, einfachen Behausungen, die in den 80ern Berühmtheit erlangten, als viele Menschen vom Land in die Vororte der Stadt zogen und in Windeseile Unterkünfte errichteten.

Stadt ohne Grenzen?

„Ein Kind des Gezi-Parks“ nennt der Aktivist Baysal die Demonstrationen für die letzten grünen Flächen einer immer größer und grauer werdenden Stadt. Der Schutz der Bäume wird zum Statement – zur öffentlichen Kritik an politischen Vorkommnissen, mit denen hier wenige der jungen Türken einverstanden sind. Nachdem zehn Minister des Kabinetts ihre Schreibtische räumen mussten, wurden zum ersten Mal seit September wieder Stimmen gegen die Regierung laut. Kilometerweit entfernt vom ikonenhaften Taksim-Platz geht die Abholzung der Bäume nicht unbeachtet an der Bevölkerung vorüber.

Immer wieder kommt es zu Protesten gegen die Regierung. Foto: Katrin Fuchs.

Eines Sonntags im Dezember kamen Aktivisten bepackt mit Bannern und Transparenten in den Belgrad Ormanı, einen Wald im Norden Istanbuls. Sogar einige wagemutige Paraglider begleiteten die Protestler, um aus der Luft die fortschreitende Zerstörung des Waldes zu dokumentieren – und um der Regierung zu zeigen, dass jeder ihrer Schritte unter kritischer Beobachtung steht. Es herrscht eine Stimmung der Solidarität: Gemeinsam wollen die Menschen aktiv gegen die Fremdbestimmung vorgehen. „Die Gezi-Proteste waren unzweifelhaft ein Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie in der Türkei“, erklärt Maria, eine der Protestlerinnen. „Gewalt war und wird nicht zu vermeiden sein, solange sich die Faschisten an ihre Macht klammern. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass faschistische Regierungen nicht von Dauer sind. Die wahre Demokratie wird triumphieren, so lange wir bereits sind, für unsere Rechte zu kämpfen!“

Eine ungewisse Zukunft

Tarlabaşı blickt in eine unsichere Zukunft. Das Projekt, welches eigentlich 2010 hätte fertig gestellt werden sollen, ist noch lange nicht abgeschlossen. Zwischen den heruntergekommenen, leerstehenden Häusern künden abgerissene und renovierte Häuser von den Zukunftsplänen der Regierung. Doch auch seit der offiziellen Verkündung des „Tarlabaşı Yenileniyor“, der Erneuerung des Viertels, im Jahr 2008, weigern sich viele der alteingesessen Einwohner ihr Viertel zu verlassen und sind bis heute geblieben. Einige leben noch in Wohnungen, die schon vor langer Zeit verkauft wurden. Sie bleiben, weil sie hier arbeiten, sich keine andere Unterkunft leisten oder sich schlicht nicht vorstellen können, woanders zu leben.

Wie das Erneuerungsprojekt weitergeht, ist unter diesen Bedingungen ungewiss. Erst in den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob Tarlabaşı sich grundlegend verändern wird oder ob weiterhin jeden Sonntag ein Straßenmarkt stattfindet.

 

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