Studierenden steht die Welt offen. Die Chance auf ein Studium im Ausland wahrzunehmen, ist unsere Freiheit und beinahe schon unsere Pflicht. Dafür zahlen wir auch einen Preis.
Von Sara Maria Behbahni
Immer dann, wenn ein Semester sein Ende findet, herrscht in Wohnheimen Aufbruchsstimmung. Ein Wohnheim ist ein Ort der Durchreise. Niemand ist gekommen, um zu bleiben. Manche bleiben ein paar Jahre, andere nur ein Semester und niemand bleibt für immer.
Immer dann, wenn ein Semester sein Ende findet, werden ganze Stockwerke ausgetauscht. Alte Bewohner*innen gehen, neue Bewohner*innen kommen und alles verändert sich. Man geht auseinander und kaum einer sieht zurück. Hinter einem liegt eine Zeit, die Leben gewesen ist und Lachen, in der man gemeinsam glücklich war und traurig, in der man Freundschaften geschlossen hat. Gute Freundschaften.
Aber dann geht diese Zeit zu Ende. Manche bleiben, aber viele machen sich auf den Weg. Auf den Weg in einen neuen Lebensabschnitt. Vielleicht sehen die, die noch bleiben, wehmütig auf die geteilte Zeit zurück, aber die, die gehen, sehen nach vorn.
Unsere Generation hat mit Erasmus, Auslandspraktika, Auslandsstipendien, der Chance, die Abschlussarbeiten weit weg an einer anderen Universität in einem anderen Land zu schreiben, die Möglichkeit, die Welt zu bereisen. Auf der einen Seite ist das ein Privileg, das wir nutzen wollen. Auf der anderen Seite ist das eine Forderung der Gesellschaft, die wir erfüllen sollen. Und während manche den Weg ins Ausland als das Glück ansehen, sich selbst und die Welt kennen zu lernen, fühlen andere sich schon fast dazu genötigt, ins Ausland zu gehen oder sich dafür entschuldigen zu müssen, wenn sie es nicht machen. Es ist kaum noch vorstellbar, immer nur an einem Ort zu studieren. Es ist unsere Freiheit und beinahe schon unsere Pflicht wegzugehen. Wir nutzen die Freiheit und erfüllen die Pflicht und gehen auseinander.
Wir brechen auf, manche leichten, andere schweren Herzens. Alle von uns können noch so viel entdecken, so viel erfahren, so viel ausprobieren. Wir wollen uns entfalten, uns selbst und die Welt, auf der wir leben, ganz neu erfahren. Gewichte wie Beziehungen oder Freundschaften, die uns festhalten, können wir uns nicht leisten. Also hoffen wir, dass wir nicht vergessen werden, einander nicht verloren gehen, und setzen darauf, mit Facebook, WhatsApp und Skype in Kontakt zu bleiben. Und wenn Freund*innen doch immer ferner werden, waren es dann wirklich wahre Freund*innen?
Das Gleiche gilt für unsere Beziehungen. Während manche sich in einer Fernbeziehung versuchen, führen andere eine offene Beziehung und wieder andere machen gleich Schluss. Müssen die Beziehungen, die bestimmt sind, zu halten, nicht auch ein Jahr im Ausland überstehen?
Wer sind wir denn, um für andere zurückzutreten? Wer sind wir, uns für jemanden zurückzunehmen, von dem*der wir ohnehin nicht sagen können, ob er*sie in zwei, drei Jahren noch da ist? Wie sehr würden wir es bereuen, für diese Person geblieben zu sein, unsere Zeit vergeudet zu haben, so wichtige Chancen ausgelassen zu haben! Wir gehen weg und stellen zu spät fest, was es bedeutet, halb hier und halb dort zu sein, nirgendwo wirklich anzukommen, sich auf das Neue einlassen zu wollen und das Alte nicht gehen lassen zu können. Wir melden uns nicht, weil zu viel los ist, und haben dann ein schlechtes Gewissen. Abends gehen wir nicht mit neuen Leuten weg, weil wir noch zum Skypen verabredet sind, und haben dann das Gefühl, etwas zu verpassen.
Vielleicht haben diese Freiheit und diese Forderung eines weit gereisten, kosmopolitischen Lebens auch einen Preis. Und vielleicht geht dieser Preis zu Lasten von Freundschaften und Beziehungen. Denn es kann sein, dass sie unsere Abwesenheit eben doch nicht aushalten. Und möglicherweise sind auch wir austauschbarer, als wir denken. Unsere Zeit ist schnelllebig geworden und unsere Freundschaften auch. Immer dann, wenn in einem Wohnheim ein Semester zu Ende geht, gehen auch Freundschaften und Beziehungen zu Ende.
Und es bleibt die Frage: Wohin darf die Reise gehen?
Aus dem Archiv: Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Printausgabe 21 im Wintersemester 2015/16. Alle Artikel aus der Archiv-Reihe lest ihr hier.