Kulturphilter

Was taugt die Aischylos-Trilogie im Residenztheater?

Theaterkritik. Das Münchner Residenztheater bringt in der aktuellen Spielzeit eine antike Tragödientrilogie auf seine Bühnen, deren letzter Teil vergangenen Samstag (24.2.2024) Premiere hatte. Zeit für ein Fazit.

Von Samuel Kopp (unter Mitarbeit von Sunna Kroy)

Mit Aischylos’ „Orestie“ sind wir in der glücklichen Situation, dass uns eine komplette sogenannte Inhaltstrilogie von dem frühen Großmeister der griechischen Tragödie erhalten ist: drei Stücke, die wie Akte einer einzigen Erzählung aufeinander aufbauen und dafür konzipiert wurden, direkt hintereinander aufgeführt zu werden. Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht der Königssohn Orest, der seine Mutter erschlägt, um seinen von ihr ermordeten Vater zu rächen, und nun selbst als Mörder zur Zielscheibe der Blutrache zu werden droht – als weiteres Glied in einer Kette von Gewalttaten, die kein Ende zu kennen scheint.

Die Aufführungsreihe, die das Residenztheater in der aktuellen Spielzeit der „Orestie“ widmet, ist zwar ebenfalls dreiteilig, jedoch stehen hier die drei Stücke jedes für sich, aufgeführt auf drei verschiedenen Bühnen, inszeniert von drei verschiedenen Regisseur*innen mit ihren jeweils eigenen Perspektiven und Interessensschwerpunkten.

Rasche überzeugt nicht

Es ist eigentlich ungerecht, drei entsprechend unterschiedliche Darbietungen in einer einzigen Rezension abhandeln zu wollen, daher sei für den ersten Teil der Trilogie, die „Agamemnon“-Inszenierung des längst weithin bekannten Theaterregisseurs Ulrich Rasche, darauf verwiesen, dass wir diese bereits im Juli 2022 im Rahmen einer Vorabaufführung im griechischen Epidauros besprochen hatten. Für hier muss als Urteil genügen, dass Rasches Stil in diesem Fall nicht überzeugt.

Im „Agamemnon“ bringt Königin Klytaimestra (Pia Händler) ihren Gatten um – und beschwört damit die Rache ihres Sohnes Orest herauf. Foto: Patroklos Skafidas.

Ein sartrescher Blick auf Orest

Wenden wir uns also dem zweiten Teil des Dramenzyklus zu, der Rache des Orest. Hierfür griff das Residenztheater auf eine Interpretation des französischen Gelehrten Jean-Paul Sartre zurück, in einer Inszenierung von Elsa-Sophie Jach. Schenkt man den Kritiker*innen großer Tageszeitungen Glauben, so war es ein schwerer Fehler, die „Fliegen“ („Les Mouches“), wie Sartre sein Stück nannte, überhaupt noch einmal auf die Bühne gebracht zu haben: Die sartresche Version sei für heutige Ohren geradezu unerträglich geschwätzig, zu oberflächlich, generell einer Aufführung nicht mehr würdig. Ein Rezensent der Abendzeitung verstieg sich unter dem Eindruck der Premiere im Oktober letzten Jahres gar zu dem erstaunlichen Pauschalurteil, der wohl berühmteste Philosoph des 20. Jahrhunderts sei „heute kaum zu Unrecht nur noch als Partner der Simone de Beauvoir bekannt“.

Sieht man sich die „Fliegen“ dagegen sine ira et studio an, wird man zu dem Schluss kommen, dass Jach ganz im Gegenteil ihrer Vorlage noch mehr hätte vertrauen dürfen, glaubte sie doch, dem heutigen Publikum eine, wie sie es selbst nennt, „Brille“ aufsetzen zu müssen, auf dass es des Dramas Kern richtig erkennen könne. Diese Brille hat die Form eines von dem österreichischen Theaterschreiber Thomas Köck verfassten Prologs und Epilogs, die dabei helfen sollen, Sartres Sicht auf den Orest-Mythos einen frischen Blick auf aktuelle Krisen und Diskussionen, allen voran den selbstzerstörerischen Raubbau des Menschen an der Umwelt, abzugewinnen.

Der sartresche Orest (Vincent zur Linden) sinnt gemeinsam mit seiner Schwester Elektra (Lisa Stiegler) auf Rachemord an der Mutter. Foto: Birgit Hupfeld.

Das wäre nicht nötig gewesen. Denn die „Fliegen“ leiden gewiss nicht unter Unschärfe und selbst wer mit dem historischen Kontext des Stücks (der Widerstand gegen die deutsche Besatzung Frankreichs im zweiten Weltkrieg) nicht vertraut ist, wird das allem zugrunde liegende existenzialistische Konzept Sartres kaum missverstehen: „Ja, als Menschen könnt ihr der freien Entscheidung und eurer Verantwortung dafür nicht entgehen – aber lasst euch von dieser Tatsache nicht in Angst versetzen!“

Glücklicherweise aber ist die köcksche Brille offenbar aus Fensterglas gefertigt, sodass sie – abgesehen von den störenden Rändern des Pro- und Epilogs – die Sicht auf das Wesentliche nicht maßgeblich einschränkt oder verzerrt. So kommt man in den Genuss eines alternativen, spannenden Zugangs zu Orest als philosophierendem Heros und heroischem Philosophen, der von Vincent zur Linden verkörpert wird, dass es eine Freude ist. Schon allein deshalb ist der Rückgriff auf Sartre zwar ein Wagnis, aber mit Sicherheit kein Fehler.

Und noch einmal die ganze Orestie

Nicht weniger gewagt, aber weniger gelungen ist der Trilogie dritter Teil, inszeniert von Robert Borgmann, der sein Werk nicht als klassisches Theaterstück, sondern als „musiktheatrale Installation“ verstanden wissen will – würde das nicht im Programmheft klargestellt, fiele es gar nicht auf. Auch der Titel des Stücks, „Athena“, ist geradezu bewusst irreführend: In Aischylos’ Orestie kommt mit der dritten und letzten Tragödie, den „Eumeniden“, der große Auftritt der Göttin Athena, die dem unseligen Morden ein Ende bereitet, indem sie den alten Automatismus der Blutrache durch die Einrichtung der Rechtsprechung ersetzt. Dementsprechend enthalten die „Eumeniden“ gewissermaßen die Pointe der ganzen Orestie und lassen sich bis in unsere Zeit ganz vortrefflich auf alle möglichen Fragen von Demokratie und Rechtsstaat beziehen.

Das Residenztheater aber verschenkt das Potenzial einer tieferen Beschäftigung mit den „Eumeniden“, denn Borgmann widmet diesem Teil in seiner „Athena“ nur einen von drei Akten. Ansonsten wird in kaum drei Stunden noch einmal die komplette(!) Orestie erzählt, und zwar in der unorthodoxen Stückreihenfolge 2-3-1. Man sieht die „Eumeniden” also eingequetscht zwischen ihrer Vorgeschichte und ihrer Vorvorgeschichte und wer glaubt, diese Art von Kontext biete die Möglichkeit, an einem einzigen Abend die komplette Orestie zu erleben, sei gewarnt: Die Szenen sind im Vergleich zum aischyleischen Original teilweise derart aus ihrer chronologischen Reihenfolge gerissen und mit einer solch undurchsichtigen Symbolik aufgeladen, dass verloren ist, wer sich nicht schon zuvor in diesem Dramenstoff gut auskannte.

Robert Borgmanns Orest (Thiemo Strutzenberger) wälzt sich mit Vorliebe im Wasser – ein weiteres Bild, dessen (Be-)Deutung sich kaum von selbst erschließt. Foto: Sandra Then.

So bedarf es auch im auf den zweiten Akt der Aufführung beschränkten Eumenidenpart einiger Konzentration, um die entscheidenden Wendepunkte der Handlung, darunter die Einsetzung des Gerichtshofes und den nur knapp errungenen Freispruch für den Muttermörder Orest, als solche zu erkennen.

Noch schwieriger auszumachen ist jede über die Textvorlage hinausgehende, interpretative Lesart des Mythos – was bedauerlich ist, klang es doch durchaus spannend, dass Borgmann ankündigte, sich mit der „Hybris der Zivilisation“ gegenüber der Natur auseinandersetzen zu wollen (an welcher Stelle soll dies geschehen sein?), und fand, die Demokratie werde in der Orestie als „Abschiedsgeschenk der Götter an die Menschen” präsentiert. Doch um aus solchen vielversprechenden Ansätzen ein erhellendes Theatererlebnis zu machen, genügt es gewiss nicht, wenn an beliebigen Stellen der Handlung ein paar Mal das Schlagwort „Demokratie“ fällt.

Ein Fazit

Und so lässt sich über die Stücke der Aischylos-Trilogie im Residenztheater, die aus den erwähnten Gründen einzeln und nicht als Einheit zu betrachten sind, ein eindeutigeres Urteil fällen als über die Schuld des Orest: Rasches „Agamemnon“ ist verzichtbar, Jachs „Fliegen“ sind uneingeschränkt sehenswert und Borgmanns „Athena“ höchstens für Aischylos-Kenner von Interesse.

Weitere Aufführungstermine und Karten gibt es auf der Website des Residenztheaters.

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