Am Anfang des Seminars wird eine Liste herumgereicht. Die Studierenden tragen sich ein, um ihre Anwesenheit nachzuweisen, denn diese ist in vielen Studiengängen eine Bedingung den Kurs zu bestehen. Ob die Anwesenheitspflicht überhaupt zulässig sein sollte, bleibt umstritten. Dabei lässt die Debatte, die sich häufig um Notenergebnisse oder Eigenverantwortung dreht, oft andere relevante Aspekte außer Acht.
Ein Gastbeitrag von Dr. Oliver Bach
Am 21. November 2017 hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Bestimmungen der Universität Mannheim zur Anwesenheitspflicht im BA-Studiengang Politikwissenschaft für unwirksam erklärt (Aktenzeichen 9 S 1145/16). Obwohl das Urteil des VGH insbesondere auf die mangelnde Klarheit der Prüfungsordnung abstellt und damit die Frage der Zulässigkeit einer Anwesenheitspflicht an ihr selbst unberührt lässt, wird von ihm eine Signal-, wenn nicht Sogwirkung erwartet. Das hierzu bestehende Meinungsspektrum fasste der Wissenschaftsjournalist Jan-Martin Wiarda in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung vom 3. Januar 2018 zusammen. Alle dort wiedergegebenen Stimmen – vom Freien Zusammenschluss von StudentInnenschaften (fzs) über Landesbildungsministerien bis zu Armin Nassehi – sind sich in der Ablehnung einer Anwesenheitspflicht einig. Die von ihnen angegebenen Gründe indessen unterscheiden sich zum Teil erheblich: Das Argument des fzs etwa, dass »[e]s […] erlaubt sein [muss], dass man sich die Studieninhalte auf individuelle Weise aneignet, wenn man dazu in der Lage ist«, hat mit dem Härtefallargument, dass pflegende Studierende in jedem Falle von der Präsenzpflicht zu befreien sind, nichts zu tun. Und während das zitierte Argument des fzs didaktischer Natur ist, argumentiert die Wissenschaftsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Svenja Schulze, rein pädagogisch: »Die Studierenden sind Erwachsene. Die können selbst entscheiden, was gut für sie ist.«
Die von Wiarda gleichfalls zitierte und vom Hochschulforscher Rolf Schulmeister vorgenommene Erhebung wiederum, dass mit zunehmender Abwesenheit die Prüfungsnote der Studierenden sinke, widerlegt nicht Schulzes Appell an die Adoleszenz der Studierenden (wie überhaupt ein Appell nicht falsifizierbar ist). Zur Frage der Rechtlichkeit der Anwesenheitspflicht ebenso wie zur Frage der Rechtlichkeit eines Verbots der Anwesenheitspflicht tragen diese Argumente insofern wenig bei. Allerdings ist das keineswegs ihre Schwäche, sondern vielmehr trägt umgekehrt die Frage nach der Pflicht zur Anwesenheit nichts bei zu der Frage, wie sinnvoll es ist, anwesend zu sein. Diese Frage mag für unterschiedliche Studiengänge, für unterschiedliche Studienfächer unterschiedlich beantwortet werden können. Eine die Grenzen der Germanistik sprengende Antwort kann und möchte dieser Kommentar insofern nicht geben. Er beschränkt sich auf die Lehrveranstaltungen der deutschen Philologie, und darin besonders auf die Veranstaltungsform des Seminars.
„Dem Seminar fern zu bleiben, stärkt die etablierte Lehrmeinung und den Status der Dozenten.“
Und hier scheint mir der schlagende Grund für die Anwesenheit (nicht für die Anwesenheitspflicht) der folgende zu sein: Abwesenden Studierenden gehen die Argumente ihrer Kommilitonen durch die Lappen; d.h. zum Teil genau jene Argumente, die gegen die Lehrmeinung des Dozenten gerichtet sind. Ebenso gilt umgekehrt: Auch wenn man selbst schon zur Entwicklung neuer Argumente in den eigenen vier Wänden in der Lage ist, wie der fzs zu Recht konstatiert: Die Kommilitonen haben davon nichts, wenn man diese Argumente nicht mitteilt. Mit anderen Worten: Dem Seminar fern zu bleiben, stärkt die etablierte Lehrmeinung und damit den Status von uns Dozenten als meinungsbildenden Tonangebern mehr als sie zu schwächen – so paradox dies zunächst klingen mag, schließlich wollen Studierendenverbände die Freiheit des Studiums ja gerade gegen die Autorität der Dozenten verteidigen.
Das ist freilich kein Grund für eine Anwesenheitspflicht. Auch ist es kein Grund dafür, die Argumente der Kommilitonen in den Himmel zu heben. Es unterstreicht aber, dass der kolloquiale Charakter des Seminars genau dem Anliegen dient, um das es den Gegnern der Anwesenheitspflicht zu tun ist: der kritischen Autonomie ihrer wissenschaftlichen Argumentationsfindung. Dieser ist mit einer Anwesenheitspflicht ebenso wenig gedient wie mit der Haltung, ein wahrhaft wissenschaftliches Studium nur vom eigenen Schreibtisch aus bestreiten zu können.
Die Irrtümer, die hierüber entstanden sind, haben auch damit zu tun, dass der Lernerfolg häufig ausschließlich über die Note der Klausur oder der Seminararbeit bestimmt wird. In dieser Prämisse sind sich seltsamer Weise alle, die in Wiardas Artikel zu Wort kommen, einig – so sehr sie sich in ihren Folgerungen auch unterscheiden. Sie alle debattieren die Anwesenheit ausschließlich als Bedingung des Prüfungserfolgs. Natürlich hat die Note allein schon wegen ihrer Zählbarkeit ihre berechtigte Stellung; und ich bin in der Tat nicht der Meinung, dass die häufige Abwesenheit eines Studierenden seine Note gleichsam notwendig mindert. Eine vergleichende Interpretation von Morusʼ Utopia und Andreaes Christianopolis, die ein Studierender sich als Seminararbeitsthema vornimmt, kann vollkommen fehlerfrei geraten, mithin die Note 1,0 verdienen und doch langweilig sein, weil sie nichts wagt.
Wenn sich hingegen Studierende beispielsweise eines Vergleichs utopischer Dichtung mit zeitgenössischen architektonischen Programmtexten annehmen, weil sie im Seminar von diesen durch einen Kommilitonen mit Hauptfach Kunstgeschichte gehört haben, dann habe ich eine aufregende Arbeit auf dem Tisch, von der am Ende ich als Dozent noch etwas lerne. Diese Arbeit verdankt sich dem Gespräch im Seminar und wäre durch Abwesenheit nicht möglich gewesen. Und auch wenn diese Arbeit sich von ersterer in der Note nicht unterscheiden mag und somit der Prüfungserfolg derselbe ist: Der Lernerfolg ist gleichwohl nicht derselbe. Es gibt spannende Einser und es gibt langweilige Einser. Und Spannung entsteht durch Reibung.
Über den Autor: Dr. Oliver Bach studierte Neuere deutsche Literatur, Slavische Philologie (Russisch) und Linguistik. Seit 2011 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München.