Egal ob Tanz-, Sprech-, Musiktheater oder performative Formate, eine Aufführung ist flüchtig, besteht nur im jeweiligen Moment und ist nie exakt reproduzierbar. Wie soll also etwas archiviert werden, das bereits nach dem Schlussapplaus nicht mehr existiert? Die Ausstellung „Aus dem eigenen Archiv – 3 Positionen“ hat sich mit dieser Frage beschäftigt.
Von Angelique Hrdina und Bernadette Pest
Technische Möglichkeiten wie Ton- und Filmaufnahmen ermöglichen zwar eine Dokumentation, ersetzen jedoch nicht das sinnliche Erlebnis der jeweiligen Atmosphäre. Vor dieser Problematik steht jedes Staats- und Stadttheater. Hier hat sich jedoch Dank der finanziellen und räumlichen Gegebenheiten eine gewisse Archivkultur entwickelt. In der freien Szene hingegen fehlen diese Kapazitäten meist, und so ist deren Geschichte kaum offengelegt. Um dem entgegenzuwirken, wurde die Münchner Initiative „Lebendiges Archiv“ ins Leben gerufen. Diese ,entstaubte‘ Archivform möchte auch das RODEO Festival aufgreifen und stellt sich der Frage, wie man das Vermächtnis des freien Theaters für nachfolgende Generationen bewahren und zugänglich machen kann. Mögliche Antworten wurden in der Ausstellung „Aus dem eigenen Archiv – 3 Positionen“ am 11. Oktober in der Galerie der Künstler vorgestellt. Die Künstlerinnen Cornelie Müller und Christina Ruf sowie Choreograph Micha Purucker wurden hierzu gebeten, ausgewählte Teile ihrer Archive zu präsentieren.
Während die Besucher*innen im Eingangsbereich die angebotenen Getränke und Häppchen genossen, bündelte unerwartet eine Opernarie die Aufmerksamkeit: Christopher Robson sang das Lamento de Dido von Henry Purcell. In der darauf folgenden Eröffnungsrede betonte die Festivalleiterin Sarah Israel, dass sich RODEO bereits seit 2014 mit der Geschichte des freien Münchner Theaters beschäftige. Unterstützung seitens der Stadt München sicherte die Literaturwissenschaftlerin Daniela Rippl vom Kulturreferat in ihrer Rede zu: Der Stadtrat habe beschlossen, auch in Zukunft in die Archivierung zu investieren, da die Geschichte zum „kollektiven Gedächtnis der Stadt“ gehöre.
Ganz im Sinne des lebendigen Archivs stellt Purucker den Körper ins Zentrum seiner Exponate. Die Besucher*innen waren eingeladen zu spüren, wo verschiedene Emotionen im Körper zu lokalisieren sind und die persönliche Stelle auf einer schematischen Zeichnung zu kennzeichnen. Der Choreograph gab Einblicke in vergangene Werke mit Hilfe von Videoaufnahmen. So konnte man beispielsweise sein Tanzprojekt „murmurs + splotches“ auf zwei Bildschirmen sehen. Das Besondere hierbei ist, dass eine Kamera das gesamte Bühnengeschehen aufzeichnete. Die zweite Aufnahme ist auf den Ausdruck der Tänzer gerichtet und zeigt Ausschnitte aus der subjektiven Perspektive des Choreographen.
Eine andere Herangehensweise kann man bei Cornelie Müller sehen. Unter anderem stellt sie Teile des Bühnenbilds der Klang-Raum-Installation „Klangreden in weiss-grün“ aus dem Jahr 2009 zur Verfügung. Wenn man den Raum betritt, ist sofort der starke Duft des Holzes wahrnehmbar. Somit fühlt man sich beinahe in den tatsächlichen Bühnenraum versetzt. Christina Ruf wagt den Versuch, neben Video- und Tonaufnahmen auch früher verwendete Requisiten mit einzubeziehen. Diese sind nicht etwa in Vitrinen vom Besucher getrennt, sondern mitten im Raum auf einer Decke ausgebreitet. Man bekommt den Eindruck, dass hier tatsächliche ,Zeitzeugen‘ der zu archivierenden Projekte vor Ort sind.
Im Kontext der Ausstellung wirken die Objekte oft wie ein eigenes neues Kunstwerk und nicht wie eine Dokumentation früherer Werke. Einerseits lud die Ausstellung so zum Entdecken ein, andererseits war es manchmal nicht nachvollziehbar, zu welchem Projekt die jeweiligen Objekte gehörten. Hier wurde die Herausforderung des Spagats zwischen Erhaltung von Vergangenem und lebendiger Vergegenwärtigung deutlich.
Die Komplexität der Thematik war auch zentrales Thema der abschließenden Podiumsdiskussion, zu der alle Besucher eingeladen waren. Wieder war Robsons Gesang die Einleitung – diesmal verfiel das Publikum in eine fast schon andächtige Stille. Als Diskussionsleiter wurde der Dramaturg und Kulturforscher Henning Fülle eingeladen. Er setzt sich schon seit längerem mit der Archivierung im freien Theater auseinander. So ist er beispielsweise Mitglied des Arbeitskreises „Performing the Archive – Archiv des Freien Theaters“ mit zugehörigem gleichnamigen Forschungsprojekt. Besonders wichtig sei ihm, dass ein Archiv kein „Aktenfriedhof“ ist, sondern eben der Arbeitsweise des freien Theaters entspreche. Zum Einstieg fragte Fülle die Künstler, was es in ihnen ausgelöst habe, als sie gebeten wurden für die Ausstellung ihre Archive zu öffnen. Christina Ruf – die Jüngste der Drei – meinte, sie sie zunächst erstaunt gewesen, sich mit ihrem Nachlass auseinander zu setzten. Micha Purucker hingegen sagte, er habe bereits vor Jahren Lager auflösen müssen und sei daher eher an die Thematik gewöhnt. Cornelie Müller blickt in Schaffungsprozessen immer auf frühere Werke zurück. Sie betonte jedoch, dass es ihr nicht um ihren Nachlass gehe – dafür bräuchte es den Blick von außen – sondern um ihre eigene Entwicklung.
In der Diskussion wurde klar, dass sich die individuellen Ansichten der Künstler*innen unterscheiden. Wo Müller ihre Erben entscheiden lassen möchte, was bewahrt werden soll, ist Purucker der Meinung, dass diese Entscheidung anderen nicht zumutbar sei. Ihm ist es zudem auch wichtig, dass eine ästhetische Lösung gefunden werde, was eventuell durch eine Zusammenarbeit mit Künstlerkolleg*innen umsetzbar wäre. Dem stimmt Ruf zu, wobei sie auch eine „institutionelle Lösung, die Künstler und Arbeitsweisen dokumentiert“ vorschlägt. Eine Performerin unter den Besuchern kritisierte, dass in der aktuellen Gesellschaft eher zu viel dokumentiert werde. Eine Frau aus dem Bereich bildende Kunst warf ein, dass es den künstlerischen Prozess behindern könnte, wenn man sich mit der Archivierung beschäftigt. Eine kritische Äußerung gabe es zudem zum Thema finanzielle Förderung. Henning Fülle fasste abschließend zusammen, dass es kulturpolitisch wichtig sei, die Art und Arbeitsweise der freien Szene zu dokumentieren.
Was die Umsetzung angeht, scheint es momentan noch Uneinigkeiten und Schwierigkeiten zu geben. Die Ausstellung, zusammen mit der Diskussion, gab den Anwesenden aber einen ersten Einblick in die Möglichkeiten. Man kann davon ausgehen, dass es die eine Lösung nicht geben wird, sondern verschiedene, die genauso individuell wie die freie Szene selbst sind. Man muss sich auch keine Sorgen machen, dass Künstler*innen, die sich mit der Archivierung ihrer Werke auseinander setzen, ad acta gelegt werden. Cornelie Müller wird beispielsweise bald ihr nächstes Werk uraufführen; „Den Stieglitz hören“ kann vom 21. Oktober bis 6. November im TamS besucht werden, jeweils um 20.30 Uhr. Schlussendlich sind auch die Erinnerungen der Besucher eine altbewährte und lebendige Form des Archivierens.