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Der Fluch der Arbeitslosigkeit

Stell dir vor, du wirst gefeuert. Im Theater dasvinzenZ wird im Stück “Retnecboj” die Horrorlandschaft der Arbeitslosigkeit nachgemalt, während den Zuschauenden elementare Fragen zum gesellschaftlichen Umgang mit Betroffenen gestellt werden.

Hier soll ihr nun endlich geholfen werden. Links sitzt Benjamin Hirt als Mitarbeiter des Retnecboj, in der Mitte Maria Lüthi als Hannah und rechts lauert bedrohlich Afra Kubatschka als Aufsichtsperson. Foto: Pius Neumaier

Von Murilo Macena und Gözde Çelik

Hannah ist verflucht. Das Undenkbare ist eingetreten, und ihre einzige Rettung ist das Retnecboj. Dort wirkt sie zunächst verloren. Das Regiekollektiv Grosse Maschen, bestehend aus Sofie Gross und Cornelia Maschner, spielt hier auf eine bestimmte Institution an. Spätestens nach dem Erscheinen des markanten, dreieckigen Logos wird dem Publikum auch klar auf welche. Denn Hannah, gespielt von Maria Lüthi, ist von einem Fluch geprägt, der rein gar nichts mit Mystik zu tun hat, sondern für 2,8 Millionen Menschen (laut Bundesagentur für Arbeit) in Deutschland eine harte Realität darstellt.

Arbeitlosigkeit – vom großen Schock in die große Scham

Sie ist arbeitslos und findet sich in einer Gesellschaft wieder, die wenig Empathie für sie übrig hat. Die plakativen Schlagzeilen in der Zeitung, die entwürdigenden TV-Formate oder auch die immer wiederkehrenden Diskussionen rund um die vermeintliche “Faulheit” oder “Arbeitsscheu” der arbeitslosen Bevölkerung. All das ist so präsent, dass sie dieses Narrativ auch schon verinnerlicht hat. Denn nach dem großen Schock, die Arbeit verloren zu haben, folgt die große Scham. Sie muss irgendetwas falsch gemacht haben, sie war wahrscheinlich nicht gut genug. Während ihr Umfeld wenig Verständnis für sie aufbringt, führt ihr Weg sie an einen verfluchten Ort ohne Wiederkehr: das Retnecboj.

Das Jobcenter als Spukhaus

Das Stück bedient sich eines minimalistischen und subtilen aber dennoch dramatischen Settings. Eine große leere Halle, gefüllt mit einzelnen heruntergekommenen Gestalten und einem Hauch Nebel, schafft eine düstere Atmosphäre, die einem Gruselkabinett in nichts nachsteht. Die Empfangsdame, gekleidet wie eine Krankenschwester aus einem Horrorfilm, der mangelnde Geiz mit Kunstblut sowie die blutunterlaufenen Augen an jeder Ecke zeugen von einem Spiel mit den Klischees. Nach und nach zeigt sich aber, dass sich der wahre Horror in der Rhetorik und den Methoden in und um das Retnecboj versteckt. Es beginnt mit der Wartenummer und endet mit Frustration, wenn man mal wieder erfährt, dass der Antrag nicht korrekt ausgefüllt wurde. Während Hannah durch die Gänge irrt, wird jedoch klar, dass das Retnecboj zwar das örtliche Zentrum der Handlung darstellt, die Kritik sich aber eher auf eine Struktur bezieht, deren Teil es ist.

Fernsehdebatten sind hier wortwörtlich verstaubt. Foto: Pius Neumaier

Diese Struktur entspricht einem kapitalistischen Ideal, in dem Arbeitslose als “Reserve-Armee” zum einen essenziell sind, zum anderen aber weder einen Platz noch Anerkennung bekommen. Analog dazu nimmt das Retnecboj ihr die Kleidung, die Identität; und gibt ihr zu verstehen, wo ihre neue Verortung im gesellschaftlichen Gefüge ist. 

Hannah bekommt eine Rundum-Behandlung auf jeder Ebene. Sei es durch eine mit religiöser Ehrfurcht vorgetragene Mentalität einer vermeintlichen Chancengleichheit oder die immer wiederkehrenden und in diesem Stück wortwörtlich verstaubten Fernsehdebatten à la Anne Will und Co.

Gut und Böse?

Aber auch kurze Einblicke in die Welt der Reichen und Schönen dürfen nicht fehlen. Denn auch die Kapitalist*innen Mrs. Jumper, gespielt von Alena Von Aufschnaiter, und Mr. Richelt, gespielt von Benjamin Hirt, haben in ihren aalglatten Köpfen feste Überzeugungen zu ihrem “Verdienst” in dieser Welt. Ein Verdienst, der ihnen ihrer Meinung nach zusteht und den sie mit allen Mitteln der Kunst zu verteidigen gewillt sind. Sie haben leichtes Spiel in einer Gesellschaft, die es sich darin bequem gemacht hat, lieber über Arbeitslose zu sprechen statt mit ihnen. Dabei sind sie, auch wenn die Insassen des Retnecboj scheinbar nicht an Überspitzung zu übertreffen sind, die eigentlichen Karikaturen dieses Stücks. Bis auf ein paar Blicke und emotionale Ausbrüche scheint nichts das Bild der bösen Superreichen zu trüben. Dieser Umstand ist unterhaltsam, lässt aber den Wunsch aufkommen, stärker hinter die Fassade dieser Antagonist*innen zu blicken.

Von unbeugbaren Lebensansprüchen

Die schillernde Welt der Reichen beißt sich fast mit den blutverschmierten Laken, die das Retnecboj zieren. Foto: Pius Neumaier

Machtverhältnisse wie auch die Absurdität eines Systems aus Superreichen und Superarmen sind die Kernpunkte dieses Stücks, welches mit einem überschaubaren Ensemble aus sechs Schauspieler*innen aufwartet. Weniger ist mehr, lautet die Devise. Schließlich soll das verfilmte Werk trotz der bewegten Bilder die Aura eines Theaters, welches mit der Vorstellungskraft der Zuschauer*innen spielt, beibehalten. Da spielt Afra Kubatschka nicht nur die gefügige Arbeiterin sondern unter anderem auch den missmutigen Kellner oder die verblutende Retnecboj Kundin. Philipp Liebl ist nicht nur der etwas charakterlose Freund Hannahs, sondern auch der Pfarrer, der in einer Messe Chancengleichheit propagiert. Und Dominique Marquet begegnet uns nicht nur als gruselige Krankenschwester und Dienerin der Anstalt sondern auch als Freigeist Toni, die eine Expertin in diesem Schattendasein geworden ist und keinen Sinn mehr darin sieht, sich dem Produktivitätsdrang der Arbeitswelt zu fügen.

Tonis abgeklärte Argumente regen zum Nachdenken an. Hannah begleitet das Publikum auf diesem Gedankengang. Leise aber doch bestimmt stellt sie sich selbst, aber auch den Zuschauenden die Frage: ”Muss ich mir ein menschenwürdiges Leben erst durch Arbeit verdienen?”

Retnecboj steht am 23. und 24. April um jeweils 20 Uhr, am 25. April, um 18 Uhr sowie am 1. Mai um 20 Uhr zum Streaming bereit. Informationen zum Stück wie auch zum Ticketkauf finden sich unter https://dasvinzenz.de/retnecboj-das-unsichtbare-grauen-1105/.

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