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Von Tippfehlern und Kabelkünstlern

Eine Freundin meinte, ich solle doch mit zu einer lyrischen Lesung unseres Instituts gehen. Es war 2010, wir waren beide Erstis, ich war naiv und sagte: „Okay“. Dabei interessiere ich mich nicht im Mindesten für Lyrik. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass es einer Sprachgottlästerlichen Tatsache gleichkommt, dass ich als Literaturwissenschaftlerin das von mir sage, aber es ist einfach so. Ich habe keinen Zugang zur Lyrik, ich finde Gedichte schön oder anstrengend, und die meisten verstehe ich nicht. Aber man ist ja offen für Neues, und außerdem dachte ich, vielleicht kann ich mein lyrisches Ich ein bisschen disziplinieren, vom Desinteresse zum Wissen-worum’s geht . Und deswegen ging ich mit.

In den heimisch-gemütlichen und gut gefüllten Kellerräumen der Schellingstraße 3 saßen wir also in jenem Winter und lauschten den Gedichten, die hinter den Vortragenden auf einer Leinwand mitzulesen waren. Für Idioten wie mich, dachte ich, die beim Zuhören abschweifen. Zu meiner Überraschung waren viele der Gedichte wirklich beeindruckend und das Zuhören machte mir großen Spaß. Im Anschluss an die jeweiligen Vorträge durfte das Publikum den Dichtern und Dichterinnen Fragen stellen. Eine schöne Idee, die einen der jungen Dichter jedoch zur Verzweiflung brachte und mich lehrte, auf was ich mit dem Studium eingelassen hatte.

In seinem Text las der Kommilitone etwas von „einer Wolke“. Er trug den Vers richtig vor, so, wie er ihn geschrieben hatte, auf der Leinwand hinter ihm war jedoch „einem Wolke“ zu lesen. Nach seiner Lesung bat er um Meinungen und Fragen. Eine Hand schoss in die Höhe, und ich dachte schon: „Ohje, jetzt korrigiert ihn irgend so ein Klugscheißer und sagt, du hast dich vertippt, auf der Folie steht das Gedicht falsch.“ Und tatsächlich deutete der junge Student auf die Gedichtprojektion: „Ich habe bemerkt, du sprichst von `dem Wolke´, und da wollte ich fragen, was das für dich bedeutet“. Der Dichter blickte irritiert. Dann drehte er sich zur Wand um, las, runzelte die Stirn, sah den Tippfehler. „Oh.“ Er wandte sich wieder seinem Publikum zu: „Das tut mir Leid, da habe ich mich vertippt.“ Der Fragensteller blickte enttäuscht drein: „Achso, weil ich dachte, wenn da dem Wolke steht…also, ich glaube, die Habermas-Kenner stimmen mir zu…“, – „Jaaa, da habe ich auch sofort dran gedacht“, fiel ihm ein Kommilitone ins Wort“, und im Nu entspann sich eine leidenschaftliche Gadamer-Habermas-Debatte.

Der Student, der das Gedicht vorgetragen hatte, versuchte, die Diskussion abzuschwächen: “Hey“, sagte er, um Gehör flehend, „also, ich habe mich da wirklich nur vertippt.“ Aber die hitzige Diskussion war in vollem Gange, immer mehr Philosophen mischten sich ein. Mir tat der Dichter leid, der („Hallo, Alter, ich hab mich vertippt!“) einer Diskussion lauschen musste, die einem Tippfehler entsprang, und als der Begriff „universale Rationalität“ fiel, gab er endgültig auf.

Erst im Nachhinein wurde mir die Absurdität der Situation bewusst, und ich musste laut lachen, als mir auf dem Nachhauseweg eine weitere Situation einfiel, die über die Spezies, der ich nun vier Jahre lang angehören sollte, viel verrät: Die Tische standen in einem geschlossenen Viereck, die Studenten und der Professor saßen außenrum. In der Mitte des Tisch-Vierecks stand der Overheadprojektor. Der Professor brauchte ihn, und wir beratschlagten, wie man den Projektor zu uns holen könne, ohne dass einer von uns unter dem Tisch durch musste oder wir gar einen Tisch beiseite rücken müssten. Nach einer Viertelstunde räusperte sich ein Kommilitone: „Zieh doch mal am Kabel.“ Der Vorschlag wurde für gut befunden und prompt umgesetzt. Es lebe die Geisteswissenschaft.

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