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Blick in die Ferne: Gemischte Gefühle

Wie fühlt es sich an, das Chaos in der eigenen Heimat von der anderen Seite des Atlantischen Ozeans mitanzusehen? Über den Verlust von Idealen, Erinnerungen an die weit entfernte Familie und den Schmerz, sie in den USA zurückzulassen.

Der Sun Room im Haus der Großeltern der Autorin im US-Bundesstaat Maryland © Foto: privat

Von Julia Erin Dunn

Es stimmt, dass man sich im Ausland paradoxerweise mehr von seinem Heimatland entfremdet und sich gleichzeitig verbundener fühlt. Durch diese Erfahrung ist mir eines klar geworden: Die Ideale der Vereinigten Staaten, die ich mal schätzte, existieren nicht. They are dead to me.

Es ist eine eigenartige Wut, die man over seas erfährt, zwischen und in zwei Kulturen gleichzeitig. Das politische Geschehen in den USA macht es nicht einfacher. Der aktuelle politische Zustand hat natürlich nicht mit Trump angefangen, aber die letzten vier Jahre waren besonders turbulent. Es fühlt sich an, als ob Land und Kultur verbluten. Es gibt unzählige vermeidbare Tragödien, eine arrogante Missachtung und Verachtung der Demokratie, zügellosen und gewalttätigen Rassismus, Homophobie und Sexismus. Man muss sich zum einen daran gewöhnen, überall darauf angesprochen zu werden, und zum anderen akzeptieren, dass sich die politische Teilnahme am Geschehen in den USA im Ausland total anders anfühlt. Das bedeutet meistens: unbefriedigend.

Ich erinnere mich gut an ein Weihnachten in meiner Heimat Maryland. Maryland ist ein kleiner, komisch geformter Bundesstaat an der Ostküste der USA. Alle Mitglieder unserer Familie waren in dem großen Haus meiner Großeltern auf dem Land versammelt. Das Weihnachtsessen bestand nur aus Essentials: Truthahn und Preiselbeersauce, warme Rolls, mashed potatoes und endlose sides. Es herrschte ein warmes familiäres Chaos, in dem viel gelacht wurde. Die Luft war gesättigt mit dem Geruch von Keksen und Eierlikör, die bald für den Nachtisch herausgetragen wurden.

Das Editorial für den Übergang 2013 zu 2014 dieser Ausgabe des New Yorker hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Der Artikel hieß Two Ships und erzählt, was nur wenige wissen: Die Titanic hatte ein Schwesterschiff, die Olympic. Die Olympic führte ein unspektakuläres Dasein, ohne Drama und Tragödie, wie man es hofft für ein Schiff. Es hatte sogar den Spitznamen Old Reliable. Vielleicht sagt es etwas über uns als Menschen aus, dass wir viel mehr über die Titanic als über die Olympic wissen. Der Autor des Artikels warnt vor der Faszination von Fatality und Melodrama: „Wir suchen Parallelen zu dem Desaster und verpassen dadurch die Parallelen der Hoffnung.“ Und er stellt klar, dass wir nicht wissen können, was mit dem Schiff, auf dem wir uns befinden, geschehen wird, ob es sinken wird oder glücklich den Hafen erreicht.

Für einen Moment war ich nachdenklich, bekam Gänsehaut und dachte über die Ideen des Artikels nach. Im nächsten Moment habe ich mein Flip phone geflippt, und fing an, mit irgendjemandem zu flirten. So ist das mit siebzehn. Am Ende des Abends saß ich wieder am Tisch mit meiner Familie, den New Yorker wieder an seinem Platz im Sun Room.

2015 zog ich nach München, wo ich bis heute geblieben bin. Ich habe meine Omi, die jetzt Witwe ist, im Februar in ihrem neuen Haus besucht. Und wie immer lasen wir den New Yorker und die Zeitung beim Frühstück. Ein paar Tage vor meiner Rückkehr nach München wurden in Italien die Grenzen geschlossen. Wir überlegten, ob ich in den USA bleiben sollte. Es war grausam, zu dem Schluss zu kommen, dass es der sichere Weg sein würde, zurückzugehen, während die Anderen in der Unsicherheit, die in den Vereinigten Staaten herrscht, geblieben sind.

Ich schaue jetzt zur anderen Seite des Atlantiks und sehe Freund*innen, die gerade in Washington, Philadelphia, New York und Baltimore an Demos teilnehmen und die Risiken von Gefängnis und Gewalt auf sich nehmen. Ich sehe die mögliche Gesundheitskrise, eine drohende Wirtschaftskrise ohne ein Sicherheitsnetz. Ein heftiger, gewalttätiger Hass entbrennt gegen black americans, gegen POC und „Minorities“, gegen die Jugend, gegen die Wissenschaft und gegen Empathie. Ich treffe jeden Tag die Entscheidung, in Europa zu bleiben. Manchmal ist es logisch. Manchmal überhaupt nicht. Mal ist es leicht, gerade ist es schwierig. Ich denke gerade sehr oft an die zwei Schiffe und den Artikel und seine eigenartige Voraussicht. Ich frage mich, ob der Autor seinen sieben Jahre alten Artikel auch so treffend findet. Deutschland sinkt nicht. Die Löcher in Amerika, neue wie alte, tun verdammt weh. Can we swim to shore? Is there a shore at all?

 

Dieser Artikel ist Teil unseres Online-Schwerpunkts „Gemeinsam“. Aufgrund der Corona-Krise haben wir uns dazu entschieden, dieses Semester auf eine gedruckte Ausgabe zu verzichten, stattdessen veröffentlichen wir Artikel unter diesem Thema. Die Ausbreitung des Virus hat das Studierendenleben von heute auf morgen verändert: Wie wirkt sich das auf den Uni-Alltag aus? Wie auf Lehre und Leben? Und vor allem: Welche Lösungen im Umgang mit dem Virus werden an Hochschulen gefunden? Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns.

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