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Rot-Weiß-Rot auf Berlins Straßen

Belaruss*innen gehen in Berlin auf die Straße und drücken so ihre Solidarität mit den Demonstrierenden in der Heimat aus. Über Polizeigewalt, die Sorge um Bekannte und die Hoffnung auf Wandel.

Demonstrierende nehmen Videobotschaften für die Mitstreiter*innen in der Heimat auf. © Razam

Von Helena Borst

„Žyve Belarus! Es lebe Belarus!“ Rot-weiße Fahnen wehen in der kalten Novemberluft. Russischer Gesang ertönt aus dem Kofferraum eines langsam fahrenden Autos. Gut 100 Menschen laufen auf das Brandenburger Tor zu. Sie tragen Rosen und Transparente auf denen „Lukašenka, hau ab!“ zu lesen ist. Auch diesen letzten Sonntag im November gehen Belaruss*innen in Berlin auf die Straße, um sich solidarisch mit den Demonstrierenden in ihrer Heimat zu zeigen. In Berlin wie in Minsk drücken seit den offenkundigen Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen am 9. August immer mehr Menschen ihre Ablehnung gegenüber dem autoritären Regime Lukašenkas aus. Sie fordern faire Neuwahlen, die Freilassung der politisch Inhaftierten sowie eine Änderung der Verfassung. 

Der Zug biegt von der breiten Straße ab und kommt an der Russischen Botschaft vorbei. Am Fenster steht ein Mann und filmt. Einer der Demonstranten ruft ihm lachend zu: „Es lebe Belarus!“.  Die Stimmung auf der Straße ist ausgelassen. „Fast wie in Belarus. Dort sind die Leute auch sehr fröhlich.“ Die Aussage der dreißigjährigen Ann Shork überrascht. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Nur wenn die Polizei kommt, kippt die Stimmung. Dann wird es gefährlich und beängstigend.“

In Belarus dagegen ließ Lukašenka das Internet abschalten.

Obwohl Lukašenkas seit dem 20. August die Demonstrierenden brutal zusammenschlagen und inhaftieren lässt, werden die sonntäglichen Umzüge nicht kleiner. Im Gegenteil, das Unrecht, das den selbstbewussten Frauen in weißen Kleidern durch schwarz maskierte Sicherheitsbeamte angetan wurde, bewegte selbst die Unpolitischen, sich der Demokratiebewegung anzuschließen. Längst gehen nicht mehr nur die Frauen auf die Straße. Einzelne Berufsgruppen, Studierende und Rentner*innen organisieren eigene Veranstaltungen. Doch die Gewalt richtet sich vor allem gegen junge Männer: Drei Viertel der Gefangenen sind männlich. Die Webseite 23.34 Net zählt in dem Zeitraum vom 8. August bis zum 12. November insgesamt 3.385 Inhaftierungen. Bei jeder dritten kam es zur Anwendung von Gewalt.

Repressionsdynamik seit Beginn der Proteste: graue Säulen: Anzahl der Festnahmen
rote Linie: Festnahmen, bei denen physische Gewalt ausgeübt wurde © 23.34 net

Trotz der Polizeigewalt wäre Ann heute lieber in Minsk gewesen statt in Berlin. „Am Anfang der Proteste habe ich mich gefragt, wo ich mich wirkungsvoller einbringen kann.“ Schließlich entschied sie sich, in Deutschland zu bleiben. Aus der Ferne den Regimewechsel voranzutreiben hat auch Vorteile. „Hier wird das Internet nicht einfach gekappt.“  In Belarus dagegen ließ Lukašenka das Internet in den ersten drei Tagen nach der Wahl abschalten. Das erschwerte die unabhängige Berichterstattung zum Wahlausgang und die Kommunikation unter den Protestierenden.

Ihr Ziel ist es, Belarus zu einem „lebenswerten Land“ zu machen.

Die Architektin weiß, wie wichtig der Austausch untereinander ist. „Wenn ich alleine zu Hause sitze, bedrückt mich, was in der Heimat passiert. Aber wenn ich auf die Demos komme, finde ich Kraft weiter zu machen. Deshalb haben wir Razam gegründet.“ Der Name passt: Übersetzt bedeutet Razam „gemeinsam“. Noch befindet sich der Verein in der Registrierungsphase, doch schon jetzt vernetzt er die belarussische Community in ganz Deutschland. Ihr Ziel ist es, Belarus zu einem „lebenswerten Land“ zu machen. Dafür schreiben sie Petitionen oder organisieren Kulturprojekte in Deutschland.

Am Potsdamer Platz angekommen bilden die Männer, Frauen und Kinder einen Halbkreis. In die Kamera schauend schicken sie Botschaften an ihre Mitstreiter*innen in der Heimat. Heute denken sie besonders an die Studierenden. 359 von ihnen wurden laut der Studierendenorganisation BSA bis zum 17. Oktober verhaftet, 138 exmatrikuliert. Besonders problematisch ist die Situation für die knapp einhundert exmatrikulierten Männer. Sie werden zum Militärdienst eingezogen, sobald sie nicht mehr an der Universität eingeschrieben sind. Daher hat sich die Student Support Association unter der Schirmherrschaft von Axel Honneth und Karl Schlögel gegründet. Sie vermittelt die ehemaligen Studierenden an deutsche Universitäten, wo sie sich für ein physisches oder digitales Auslandssemester einschreiben und dadurch der Wehrpflicht entgehen können. Der junge Mann hinter der Handykamera hebt den Daumen. Die Videobotschaft an die Studierenden ist verschickt und reiht sich auf Telegram in Solidaritätsbekundungen aus ganz Europa ein.

Wer Blumen mitgebracht hat, legt sie jetzt vor einem freistehenden Stück der Berliner Mauer nieder. Das geschichtsträchtige Betonstück ist rot-weiß bemalt. Im Sinne des Eigentümers Hans Martin Fleischer fungiert das Denkmal als „Zeitung“. Doch mit Friedhofslichtern und Blumen erinnert es heute vielmehr an einen Grabstein. Am 12. November ist Roman Bondarenko gestorben. Er wurde mutmaßlich von sogenannten Ticharys ermordet – Männer der staatlichen Gewaltapparate, mit Maske, aber ohne Uniform.

Seit den ersten Protesten ist viel Zeit vergangen. Keine der Forderungen konnte bisher umgesetzt werden.

Neben diesem bemalten Mauerstück streckte die eigentliche Wahlsiegerin Svjatlana Cichanoŭvskaja Anfang Oktober ihre Faust in die Luft. Ann zeigt ein Foto auf ihrem Handy. Nachdem Cichanoŭvskajas Mann inhaftiert wurde, weil er sich für die Präsidentschaftswahlen aufstellen ließ, beschloss sie an seiner Stelle zu kandidieren. Obwohl sie laut der unabhängigen Organisation Golos die Wahlen am 9. August gewonnen hat, sieht Ann sie nicht als „selbständige Präsidentin – jedenfalls noch nicht.“ Vielmehr sei sie als Gegenspielerin zu Lukašenka zu sehen. „Sie ist nicht machtsüchtig und man glaubt ihr, dass sie freie Wahlen durchsetzen möchte. Ob sie ein Land regieren kann, weiß ich nicht. Ich glaube eher nicht, und das ist vielleicht das Gute an ihr.“ 

Seit den ersten Protesten im Vorfeld der Wahl am 9. August ist viel Zeit vergangen. Keine der Forderungen konnte bisher umgesetzt werden. Ann ist dennoch hoffnungsvoll. „Ich bin sicher der Wandel ist schon passiert – in den Köpfen der Menschen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber jeder Tag kostet viel Geld.“ 

Tage, die Belarus teuer zu stehen kommen. Aufgrund der instabilen politischen Lage und des wiederholten Abschaltens des Internets ziehen einige der IT-Unternehmen in Erwägung, den Standort Belarus aufzugeben. Sie überlegen nach Estland oder in die Ukraine abzuwandern – trotz gut ausgebildeter Arbeitskräfte, Steuervorteilen und gesetzlicher Freiräume in Belarus. 

Das werde den Wiederaufbau des Landes erschweren, befürchtet Ann. „Ich wünsche mir, Belarus mit aufzubauen. Es wird nicht leicht sein, aber sehr inspirierend. Jeder kann sich nach seinen Fähigkeiten einbringen. Bis dahin müssen wir Politik machen und in dem Bereich viel nachholen. Das Regime in Belarus hat uns nicht gelehrt, sich einzumischen.“ Im Demonstrieren haben die Berliner Belaruss*innen jedenfalls Erfahrung. Und bevor Ann die Veranstaltung offiziell beendet, rufen die Versammelten: „Danke, Polizei!“.

 

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