Unileben

Paris, Corona

Kaum etwas war 2020 normal — erst recht nicht im Nachbarland Frankreich. Unser Autor erlebte den Ausnahme-Alltag an der Universität Panthéon-Sorbonne. 

Die spätsommerliche Sonne lacht auf die sich nach wie vor im Wiederaufbau befindliche Kathedrale Notre-Dame. Foto: Dilara Willmann

Von Michael Kister 

Ich bin kein Freund von nationalen Stereotypen, weil sie uns die Offenheit nehmen, die nötig ist, um andere Kulturen und Menschen wirklich kennenzulernen. Kein Stereotyp, sondern sprachliche Realität ist es jedoch, dass in Frankreich alle länglichen Gegenstände „baguette“ heißen. Endgültig hat mir das der Handwerker bestätigt, der mir erzählte, die große Pfütze sei in meiner Küche, weil ein „baguette“ aus der Regenrinne sich verschoben hätte.

Der glatzköpfige Mann im dunkelblauen Overall sprach Französisch, da ich im Herbst gute zwei Monate in Paris verbringen durfte. Im Rahmen des Doppelmasters Geschichte schickt die LMU theoretisch jedes Jahr fünf Studierende an die Universität Panthéon-Sorbonne im Herzen der Seine-Metropole. Mangels frankophilen Nachwuchses machte ich mich in diesem krisengeplagten 2020 allerdings als einziger Neuling auf in unser Nachbarland.

Ein Nachbarland, das näher ist, als ich dachte, denn: Französische Strafzettel kommen in Deutschland an. Mehrere Minuten früher als erlaubt, jedoch auch einige Euro ärmer, erreichte ich daher Anfang September die Stadt der Lichter. Mein persönlicher Beitrag zum funkelnden Ensemble drang aus einem vierten Stock ohne Aufzug, dessen altehrwürdige Regenrinne mir noch linguistische Einsichten bescheren sollte. Dank der Lage zwischen Notre Dame und meiner Uni konnte ich beinahe überallhin zu Fuß gehen. Einerseits hat das schon Owen Wilson empfohlen, besonders im Regen. Andererseits fuhr Corona in der Metro leider mit.

Die Maske war die one-fits-all Lösung

Sobald man sich daran gewöhnt hatte, immer und überall einen Fetzen Filterstoff vor dem Gesicht zu tragen, war eigentlich alles normal. Ein Leben, wie wir es kennen, schien greifbar, leuchtend direkt hinter einem Perlenvorhang aus Corona-Emojis. In den Cafés tummelten sich die Leute, ab fünf, sechs Uhr startete beinahe überall die Happy Hour. Auf der Seine fuhren abends Partyschiffe, geschlossene Gesellschaft versteht sich. Abstand zu halten schien hier nicht so nachhaltig gepredigt worden zu sein. Die Maske war die one-fits-all Lösung, zugegebenermaßen ergänzt durch Desinfektionsmittel an jeder Ecke.

Ein Beispiel: die Einführungsveranstaltung meines Masters. Etwa 60 Leute in einem Raum, der lediglich vier Fenster an der Decke hat, die nicht zu öffnen sind. 20 Zentimeter Abstand zur Nebenfrau, wenn’s hoch kommt. Leute stehen an den Wänden. Sieben Dozenten, von denen hauptsächlich einer das Wort führt, aufgereiht vor der Tafel. Doch die Ohren eines jeden umspielt von zwei elastischen Henkeln, an denen die Gesundheit der Anwesenden baumelt.

Dass die Uni überhaupt ihre Pforten öffnete, lag wohl nicht zuletzt am intensiven Einsatz der Studierenden selbst. Sie hatten bereits einen kompletten Lockdown mit all seinen Folgen erleben müssen. Besonders waren sie darum besorgt, dass Distanzunterricht die Qualität ihres Abschlusses verringern würde. Er lasse weiterhin die sozialen Unterschiede noch stärker hervortreten und verwehre ihnen schlussendlich den Zugang zur Bildung. Petitionen und Informationskampagnen der studentischen Vereinigungen konnten die Entwicklung hin zum Unvermeidlichen allerdings nicht abwenden. Nach den ersten Wochen wurden Kurse halbiert, eineinhalb Meter Abstand sollten zu jedem Zeitpunkt eingehalten werden. Ganz richtig, das war nicht von Anfang an Vorschrift.

Coronabedingt diente diese Pforte in der Rue Saint-Jacques nur als Ausgang der Sorbonne, während man über die Rue Victor Cousin auf der anderen Seite des Gebäudes hineingelangte. Foto: Robin Benzrihem

So ging es weiter bis zu den Herbstferien. Emmanuel Macron hatte zuvor versichert, man könne getrost innerhalb Frankreichs verreisen. Nächtliche Ausgangssperren gab es sowieso schon so gut wie überall. Ich saß also am Abend des 28. Oktober auf dem Place Plumereau im zweieinhalb Autostunden von Paris gelegenen Tours. Gesäumt von zahlreichen Lokalen, deren Sitzgelegenheiten voller Menschen, draußen, unter Heizpilzen und vor Bieren. Plötzlich erhob sich ein Gemurmel, eine Woge, als renne der Stürmer auf das leere Tor zu… und schließlich ein kollektiver Laut von Ich-habs-doch-gewusst. Was war passiert? Monsieur le Président hatte soeben im Livestream den erneuten Lockdown verkündet.

Schneller als das Virus?

Ich gelangte noch zurück in die Hauptstadt, denn Reiserückkehrer durften sich bis zum Ende der Ferien frei bewegen. Damit war dann aber Schluss. Sämtliche Kurse purzelten in den Distanzunterricht. Schlimmer noch. Eine Stunde Ausgang am Tag, innerhalb eines Kilometers der eigenen Adresse. Trotzdem — und dafür schätze ich die Franzosen — tauchten in den Supermärkten keine Schilder à la „Pro Person nur 1 Packung Klopapier!“ auf.

So froh ich darum bin, die Schönheit von Paris für zwei Monate genossen zu haben, war nun doch ein großer Teil dessen, was sie ausmacht, geschlossen oder unerreichbar. Deswegen entschied ich mich für eine Rückkehr nach Deutschland. Dort hatte schließlich alles offen und ich konnte wenigstens ein paar Freunde treffen. Aus der Retrospektive betrachtet war ich zwar schneller als das Virus, doch die Flucht gelang mir nicht.

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