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„Ich fühlte mich erniedrigt, aber auch privilegiert“

Jung und gut ausgebildet, dennoch bedürftig: Auch Akademiker*innen greifen auf das Angebot der Münchner Tafel zurück. Ein Gespräch mit einer Absolventin, der während der Jobsuche das Geld ausging – und die dankbar ist, dass ihr geholfen wurde.

Essensausgabe (Symbolbild) © Fotos: Münchner Tafel e.V.

Das Gespräch führte Thilo Schröder

Julia*, du hast ein halbes Jahr lang Essen von der Münchner Tafel bezogen, während du an der LMU studiert hast. Wann war das?
Ab Januar 2015. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon ein Magisterstudium in Berlin abgeschlossen, wo ich die erste Hälfte meines Lebens verbracht habe. Danach war es sehr schwer, eine Arbeitsstelle zu finden. Also beschloss ich, mich an der LMU einzuschreiben, um schneller einen guten Job zu bekommen.

Mit welchen Schwierigkeiten warst du konfrontiert?
Mein Vater verdiente damals schlecht, meine Mutter war länger arbeitslos und ich wollte als Einzelkind finanziell endlich richtig selbstständig sein und sie mit meinen Problemen nicht belasten. Sechs Monate lang habe ich einen Job gesucht, aber nur Absagen auf meine Bewerbungen erhalten. Eine Mitarbeiterin im Jobcenter in Feldmoching sagte mir, ich hätte keinen Anspruch auf Hartz IV, weil ich jung sei und arbeiten gehen könne.

„Sechs Monate lang habe ich nur Absagen erhalten. Im Jobcenter hieß es, ich sei jung und könne arbeiten gehen“

Wie bist du dann auf die Tafel aufmerksam geworden?
Auf einer Straße bei mir in der Nähe sah ich regelmäßig eine lange Schlange von Menschen neben einem Transporter mit Essen stehen. Ich kenne aus Berlin nur die kirchliche Hilfe und Hilfsaktionen; und immer, wenn wir finanzielle Probleme hatten, haben uns meine Großeltern geholfen. Ich telefonierte mit meiner Mutter und erzählte ihr davon. Sie ermutigte mich, nachzufragen, was es damit auf sich hat. Das tat ich dann auch und ein Mann erklärte mir, wie die Tafel funktioniert und wo ich einen Kundenausweis beantragen kann.

Für den Tafel-Ausweis muss man nachweisen, dass man bedürftig ist.
Ja, den Essensausweis habe ich wie durch ein Wunder bekommen, obgleich ich dazu ja ohne Hartz-IV-Bescheid nicht berechtigt war. Freunden habe ich darum auch nicht erzählt, dass ich Essen von der Tafel beziehe. Als nach sechs Monaten meine Ausgabestelle umziehen musste, brauchte ich einen Bescheid vom Jobcenter. Die Person, die mir bislang meinen Ausweis ausgestellt hatte, arbeitete dort aber nicht mehr. Ich habe dann mein leeres Girokonto und Einkommensnachweise meiner Eltern gezeigt. Bis zu dem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass wir in München zu den Armen gehören.

Wie hast du Begegnungen mit unterschiedlichen Tafel-Gästen erlebt?
Insgesamt sehr schön! An jene Ausgabestelle durften jeweils an bestimmten Wochentagen etwa 100 Menschen kostenlos Essen beziehen. Wir konnten uns in der Warteschlange miteinander sehr gut unterhalten, unabhängig von der Herkunft, egal ob jemand aus der Türkei, dem Irak oder Bremen stammte. Es kamen sehr viele Frauen mit sehr kleinen Kindern und viele Männer, circa ab Mitte 50. Ich erinnere mich, wie ein Mann mal besonders verbittert war und sich über die Essensqualität bei den Helfern beschwert hat. Das hat mich sehr gewundert, weil er ja wusste, dass das Essen von Supermärkten aussortiert wird, bevor es zu uns kommt.

Hast du bei der Tafel andere Studierende oder Akademiker*innen getroffen?
Nein. Beziehungsweise haben sie sich nicht als solche zu erkennen gegeben.

Was für ein Gefühl war es, dieses Angebot wahrzunehmen?
Unaussprechliche Dankbarkeit. Es hat sich gar nicht angefühlt, als wäre ich auf etwas angewiesen. Vielleicht war dieses Gefühl umso stärker, weil die Helfer immer sehr freundlich waren. Wenn ich das Essen abholen durfte, war das wie in einem Laden zu sein. Die Helfer haben sich sehr darüber gewundert, dass ich immer gelächelt und mit ihnen gescherzt habe, wenn wir uns zwei Mal pro Monat trafen. Sie haben mich darauf angesprochen und ich habe gesagt: weil ich mich gerade so glücklich fühle, dass mir geholfen wird, und weil die Essensausgabe für mich eine große Hilfe ist. Wie sollte ich mich darüber nicht freuen? Das muss sie tief berührt haben.

„Ich weiß nicht, was ich damals ohne die Tafel getan hätte. Ich fühlte mich das erste Mal richtig unterstützt“

Über die gemeinnützig organisierten Tafeln gibt es oft zwei Meinungen. Die einen sagen: Es ist gut, dass es sie gibt. Die anderen: Es ist traurig, dass es sie braucht. Was denkst du darüber?
Definitiv zähle ich mich zur ersten Gruppe! Ich weiß nicht, was ich damals ohne das Essen der Tafel gemacht hätte. Zum Teil habe ich das Essen an ausländische bedürftige Studierende aus einem Wohnheim weitergegeben, die in Deutschland keine Familie hatten. Die waren so glücklich darüber und ich auch, dass ich ihnen helfen konnte.

Wie bewertest du rückblickend deine Situation?
Ich fühlte mich damals privilegiert, Essen beziehen zu dürfen und dadurch etwa 60 Euro im Monat zu sparen. Es war einerseits total erniedrigend, andererseits fühlte ich mich das erste Mal richtig unterstützt.

Hinter der Geschichte: Die Münchner Tafel sucht derzeit Studierende, die ehrenamtlich bei der Essensausgabe helfen. Im Gespräch mit einer Mitarbeiterin stellt sich heraus: Akademiker*innen stehen auch auf der anderen Seite, unter den wöchentlich über 20.000 Menschen, die das Angebot nutzen. *Julia, die eigentlich anders heißt, erklärte sich bereit, von ihrer Tafel-Erfahrung zu berichten. Sie ist inzwischen Anfang 30 und lebt und arbeitet in München.

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