Über Barrierefreiheit im öffentlichen Raum wird viel diskutiert, doch wie steht es um virtuelle Räume? Unsere Autorin berichtet über frustrierende Fehlkäufe, ungenaue Steuerungsangaben und fehlende Inklusion in Videospielen. Ein Appell.
Von Marlene Beilharz.
Als Hitchcock-Fan habe ich mich sehr auf das Spiel The Wolf Among Us gefreut. Gleich am Anfang hatte ich die Assoziation zu seinem berühmten Film Vertigo. Als Masterstudentin in Film- und Medienkulturforschung mit Schwerpunkt Computerspiele ist Intermedialität für mich ein interessanter Aspekt. Aber gleich nach der ersten Sequenz war die Freude und das Spiel für mich vorbei: Ich hätte die WASD-Tasten schnell drücken müssen. Dass diese im Spiel bereits integriert und per Mauszeiger ansteuerbar waren, war mal wieder nicht der Fall. Ich kann aber keine schnellen Tastenkombinationen machen. Ich habe eine Körperbehinderung und kann meine Hände nicht kontrolliert einsetzen. So wurde mein Avatar gleich in der ersten Szene kaltblütig ermordet – Game over!
An der ersten Aufgabe eines Computerspiels zu scheitern, mag für manche Spieler*innen im ersten Moment eine lustige Vorstellung sein, für mich eine alltägliche Erfahrung. Da ich meine Hände zum Spielen nicht benutzen kann, benötige ich viele Hilfsmittel: Den Cursor bewege ich mit einem Mini-Joystick, den ich mit dem Kinn steuere, und per SwitchMouse, einem Adapter zur Computeransteuerung. So kann ich die Maus bewegen und den Linksklick nutzen. Für alles andere brauche ich Zusatzausrüstung wie externe Tasten, die für mich nicht leicht zu bedienen sind, oder die Bildschirmtastatur, die heutzutage zwar in jedem Computer vorhanden, aber leider nicht in jedes Spielfenster integrierbar ist. Manchmal wird sie vom Spiel gar nicht erst erkannt. Wenn das so ist, scheitere ich schon daran, am Anfang eines Spiels meinen Namen einzugeben. WASD-Tasten, die für die meisten Spieler*innen eine Erleichterung zur schnellen Fortbewegung sind, schließen Leute wie mich vom aktiven Spielvergnügen aus.
Games, die ich spielen kann, sind rar
Zwar bietet der Computer mir und anderen Menschen mit motorischen Einschränkungen sehr viele Möglichkeiten zur Teilhabe: Ich kann z.B. schreiben, zeichnen und lesen ohne, dass mir jemand die Seiten umblättern muss. Ohne diese Möglichkeiten könnte ich gar nicht studieren. Im Bereich Gaming gibt es aber noch viel zu tun. Zwar sind einige Spiele mit fortschreitender Entwicklung barrierefreier geworden, wie z. B. das in Sachen Accessibility als „Meilenstein“ bezeichnete Action-Adventure The Last of Us Part II, das allerdings mit seinen 60 Zusatz- oder Alternativfunktionen eine ganz große Ausnahme sein dürfte. Oder die Sims-Reihe der Firma Electronic Arts (EA), bei denen seit einigen Jahren die Option „Name zufällig wählen“ hinzugefügt wurde oder durch die veränderte Fenstergröße die Bildschirmtastatur plötzlich integrierbar ist. Bei den meisten Spielen hat man allerdings das Gefühl, das über Barrierefreiheit nicht mal nachgedacht wird, weil man lieber beim Althergebrachten bleibt, als Neues auszuprobieren.
Wenn es wirklich ausschließlich um Schnelligkeit oder Zielsicherheit geht, wie bei Shootern oder bei schweren Jump & Run-Spielen (mit Pfeiltasten rennen und mit Leertaste springen), ist eine barrierefreie Steuerung tatsächlich kaum möglich, bzw. nur auf sehr einfachem Niveau umsetzbar. Das ist schade, aber es geht eben leider nicht alles. Doch bei vielen Videospielen handelt es sich um vermeidbare Kleinigkeiten, die mir das Spielen erschweren oder unmöglich machen. Es wäre für Entwickler*innen ein Leichtes, Icons im Spiel zu integrieren, die direkt mit der Maus ansteuerbar und anklickbar sind. Ich bin kein Tastatur-Gegner und manche User*innen finden es sicher einfacher, einzelne Tasten zu benutzen, oder freuen sich auch über einen schweren Spielmodus. Denen möchte ich nicht den Spaß verderben, aber Alternativen oder Optionen für körperlich eingeschränkte Menschen mitzudenken, wäre keine große Sache.
Die schwierige Suche nach einem Spiel
Ich beschäftige mich gerne mit Games und habe sie zu meinem Forschungsschwerpunkt gemacht. Aber um sie zu analysieren, sollte ich sie auch spielen können. Leider gibt es aber schon bei der Recherche Schwierigkeiten. Diese Suche ist häufig sehr frustrierend, man kann stundenlang nach einer zutreffenden oder ausreichenden Beschreibung der Steuerungsweise fahnden, um letztendlich ein unspielbares Spiel zu kaufen. Bei der Spiele-Vertriebsplattform Steam sind Tags und Userkritiken ungenau und doppeldeutig. Aussagen bei Wikipedia, Webseiten oder sogar Test- und Online-Portalen wie Gamestar oder Adventure Corner sind ebenfalls nicht immer hilfreich.
Ein Point & Click Adventure wird üblicherweise ausschließlich mit der Maus gespielt. Wenn es Tester*innen aber unwichtig finden zu erwähnen, dass man außer der Maus noch mehrere andere Tasten braucht, haben ich und meinesgleichen wieder mal umsonst Geld ausgegeben. Es gibt zwar Facebook-Gruppen wie z.B. Zocken für alle, oder die neu gegründete Datenbank Can I Play That, die helfen herauszufinden, ob ein Spiel für Menschen mit bestimmten Einschränkungen spielbar ist, aber dass Menschen mit Behinderung sich selbst organisieren müssen, anstatt dass Firmen und Vertreiberplattformen klare Angaben zur Steuerung machen, hat mit Inklusion nichts zu tun.
Die Gaming-Branche wächst ständig und es gibt unzählige Spielmöglichkeiten. Ich habe eine ganz spezifische Problematik, die vielen gar nicht bewusst oder schwer nachvollziehbar ist und gelte deshalb als Einzelfall. Allerdings leben allein in Deutschland laut Angabe des Statistischen Bundesamts 7,9 Millionen Schwerbehinderte. Wenn man bedenkt, dass fast 40% der Weltbevölkerung regelmäßig Computer- bzw. Konsolenspiele spielt, betrifft die Problematik vielleicht doch mehr Leute, als man zunächst denken würde.
Eine Schwierigkeit für Spieleentwickler*innen ist, dass die verschiedenen Behinderungen und Beeinträchtigungen für die betroffenen Personen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen ganz verschiedene, individuelle Lösungen erfordern. Die Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung werden immer besser und das Problem rückt in letzter Zeit mehr und mehr ins Bewusstsein der Firmen.
Ein Wunsch für die Zukunft
Es wäre hilfreich, wenn alle Spieletests auch Usability als Standardkriterium berücksichtigten und bei Unsicherheiten auf Barrierefreiheit angewiesene Personen als Tester*innen anfragen würden. Sicherlich wird der 2020 eingeführte Preis Innovation in Accessibility Ansporn für Unternehmen und einige Firmen sein. Es fragt sich nur, warum dieser erst so spät eingeführt wurde. Es ist wichtig, die Steuerungsweise und Tastenkombinationen in die Beschreibung mit aufzunehmen, um Fehlkäufe und den damit verbundenen Frust betroffener User*innen zu vermeiden.
Von Firmenseite her gilt es zu überdenken, ob und wann Tastatur wirklich die einzige Möglichkeit ist oder ob eine alternative Steuerungsweise angeboten werden kann. Die Gewohnheit der Mehrheit zu erfüllen, sollte nicht Hauptziel sein, sondern dass möglichst viele mit dem Endprodukt zufrieden sind. Eine leichte Bedienung hilft letztendlich nicht nur Menschen mit Körperbehinderung, sie kann auch einer unerfahreneren Gruppe von Spieler*innen den Einstieg erleichtern.