Wie verfiel eine Gesellschaft des immer Neuen plötzlich dem Charme des Alten?
Von: Regine Hader
Karottenhose, Nickipulli und Hornbrille, dazu eine abgetragene, cognacfarbene Ledertasche und ein zerrupfter Dutt. Man könnte meinen, es handle sich um Zeitreisende. Tatsächlich aber sitze ich im Hier und Jetzt am Brunnen auf dem Geschwister-Scholl-Platz und beobachte Studenten, die durch gläserne, schwingende Türen die LMU verlassen. Nachdem nun auch im klischeemäßig konservativen und eher schicken München die Second-Hand-Läden aus dem Boden schießen, wundere ich mich, was hinter dem Vintage-Trend steckt.
Die erste Diagnose ist so schnell wie hart: Realitätsflucht! Je länger ich jedoch darüber nachdenke, desto mehr bin ich vom Gegenteil überzeugt. Es erstaunt mich, dass der jahrhundertelang geebnete Fluchtweg aus der Realität plötzlich keine Einbahnstraße mehr ist. Polaroidfotos, Kleidungsstücke, denen die Zeit eingeschrieben ist und Kassettenrekorder: Der moderne Großstädter flüchtet nicht mehr vor dem grauen Alltag in phantasievolle Bildwelten. Stattdessen sucht er vor einer scheinbar reizüberfluteten, übervirtualisierten Realität Zuflucht bei den analogen, handfesten und ausgeblichenen Dingen.
Als ich mit der Professorin Barbara Vinken, Autorin des Bestsellers „Angezogen“, über meine These spreche, sind wir schnell einer Meinung. Sie sieht in der Hinwendung zum Alten aber auch die „Mode nach der Mode“. Damit beschreibt sie, dass die Mode bis zu den 80er-Jahren das ewig Neue als „Aphrodisiakum“ brauchte. Heute aber lässt sie Zeit und Vergänglichkeit mal ironisch, mal nostalgisch sichtbar werden, übertreibt sie, stellt sie aus. Vielleicht meint die Mode damit ja nicht nur ihr eigenes, kurzlebiges und endliches Wesen, sondern auch unseres? Dafür spricht auch die Unterscheidung zwischen Vintage und Historismus, die Professor Dr. Vinken betont. Während der Historismus eine Epoche zitiert, geht es bei „True Vintage“ darum, dass man es mit Originalen zu tun hat.
Das Phänomen „Vintage“ tritt häufig gepaart mit der Begeisterung für eine scheinbar altmodische Lebensweise auf. „Selbstgebaut“, „selbst angepflanzt“, „selbstgestrickt“ sind vor allem auf Blogs die neuen Catchphrases. Dabei wird aus einer zutiefst ironischen und kompensatorischen Position gesprochen: Vintage und homemade sind die Gegengifte für alle, deren Alltag selbst ein Teil der überdynamischen, hektischen und abstrakten Welt ist. Ohne Gefahr zu laufen, jemand könnte ihren Stress infrage stellen, kokettieren gerade sie ironisch mit dem Image des ruhigen, nostalgischen Lebens.
Beim Selbstmachen geht es, genau wie beim Vintage-Trend, um die Kombination von Einzigartigkeit und begrenzter Verfügbarkeit. Auf diese Weise ist das Unperfekte und Verschlissene Ausdruck eines Ideals, das erst durch die persönliche Geschichte und ihre Ablagerungen entstehen kann: Individualität. Der französische Philosoph Roland Barthes denkt die Mode auch als ein narratives System. Eignen wir uns mit abgelebten Kleidern die heimlichen Erzähler von Geschichten an, die wir selbst gerne erlebt hätten?
Auch die Modeexpertin sieht den starken Bezug zum Ich und zum Fremden. Sie vermutet hinter der Zuwendung zum Selbstgemachten und zum Alten eine klare Antiglobalisierungsbewegung. Dieser Logik nach tragen wir beim Verschenken der selbst eingekochten Marmelade die ausgewaschenen Schürzenkleider, weil wir uns vom undurchsichtigen Netz des Neuen, Fremden und Ausbeuterischen befreien wollen. Der junge Großstädter, der Vintage-Klamotten trägt und als Hipster bezeichnet wird, wäre damit immerhin vom Klischee vollkommen unpolitisch zu sein befreit.
Ist es nicht erstaunlich, dass es plötzlich Trends gibt, die uns sagen: „Schluss mit den Trends! Schluss mit dem Neuen!“? Ich würde gerne wissen, ob der Vintage-Trend als überraschender Gegenentwurf zum unendlichen Konsum bald dem nächsten Trend weichen muss oder ob er wirklich für ein Umdenken steht.
Nun, wir werden es herausfinden …
Übrigens: Am Montag, den 4. Juli startet der Verkauf der neuen Print-Ausgabe der philtrat an unterschiedlichen Orten an der LMU. Erwerben könnt ihr die Ausgabe in der Schellingstraße 3 im Foyer die ganze Woche über von 10 bis 18 Uhr. Eventuell sehr ihr ja auch eines der mobilen Teams, bei denen ihr die Hefte auch kaufen könnt.