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Angriffe auf die Leere

Mit dem Stück „Angriffe auf Anne“ entwickeln junge Münchner lebendiges Theater

Theater anders denken: Wie das funktioniert, zeigt das Projekt „KunstKonstrukt“. Es hat sich zum Ziel gesetzt, Zuschauersituationen neu zu erforschen und auszuprobieren. Ein Interview über Kaffeehausbesucher und Aufführungen ohne Bühne.

Ende Juli im Kafeehaus Karameel in Nymphenburg. Café-Besucher unterhalten sich, trinken, essen – bis verschiedene lautere Stimmen sich Raum verschaffen. Über viele Köpfe hinweg entwickelt sich ein Dialog, hin und her, immer geht es um eine gewisse Anne. Diese Anne selbst scheint jedoch nicht da zu sein. Der Dialog entwickelt sich zum Stück. Was wie normaler Café-Betrieb scheint, ist in Wirklichkeit eine Aufführung des Theaterprojekts KunstKonstrukt. Die Regisseurin Martina Missel erklärt die Idee hinter der ungewöhnlichen Aufführungssituation.

 Wer oder was ist KunstKonstrukt?

KunstKonstrukt habe ich ins Leben gerufen. Das ist meine „Marke“ quasi, unter der ich Theater machen möchte, in der ich die Zuschauersituation neu erforsche und ausprobiere. Es ist nicht so, dass jemand zu KunstKonstrukt gehört oder nicht. Es ist einfach ein Label, unter dem junge Leute arbeiten können. Gerne nehmen wir aber auch Anreize von Menschen, die länger dabei sind.

 Ist Angriffe auf Anne das erste Projekt von KunstKonstrukt? Sollen noch weitere folgen?

Ja, das ist das erste Projekt, und es sollen noch weitere folgen. Ich würde gerne versuchen, kleine Theaterszenen in der U-Bahn zu spielen. Ich möchte Kunst und Theater im Allgemeinen nehmen und nach draußen tragen. Ich will Zeichner und Tänzer in die U-Bahn und an ähnliche Orte bringen. Für nächstes Jahr habe ich ein Projekt im Kopf, bei dem ich gerne Theater als Museum machen möchte. Da gibt es dann keine Anfangs- und Endzeit. Man entscheidet selbst, wann man kommt, und wie lange man bleiben möchte.

 Von wem ist das Stück Angriffe auf Anne?

Es ist von Martin Crimp. Er hat in den 1990er Jahren in London zeitgleich mit Sarah Kane geschrieben. In der hier aufgeführten, großartigen Übersetzung von Falk Richter.

Welches Konzept liegt der Aufführung zugrunde, bzw. welches möchtest du durchbrechen?

Was ich durchbrechen möchte mit der „Kaffeehausgeschichte“ ist Folgendes: Ins Theater zu gehen ist ja sehr bequem. Man kauft sich eine Karte, dann hat man sicher einen Platz. Dann geht man dahin, trifft sich vorher noch mit Bekannten, kann einen Sekt trinken, setzt sich auf seinen Platz, wo die Nummer steht, weiß, wie gut man sieht; und wenn es dunkel wird, dann kann man sozusagen rezipieren. Ich möchte das durchbrechen, indem man sich für diese Aufführung keine Karte kauft, sich irgendwo hinsetzt, wobei man nicht weiß, ob man gut sehen wird und wo die Schauspieler sind, und dann auch nicht „in Ruhe gelassen wird“. Sondern nebenher wird bedient, man kann was trinken. Wenn es dann sozusagen blöd läuft, ist der Schauspieler direkt neben einem und spricht von da aus.

Musste man also damit rechnen, auch miteinbezogen zu werden?

Wir haben die Zuschauer sowohl angesprochen, als auch direkt angeschaut. Ich habe aber persönlich ein Problem mit Mitmach-Theater. Wirklich einbezogen wird das Publikum nicht. Es wird aber direkt konfrontiert und vom Schauspieler angeschaut.

Die Inszenierung ist ja eine Stunde lang sehr viel Text, ohne Lieder und ähnlichem. Wie wichtig ist also der Text für diese Aufführungssituation?

 Gerade hier ist der Text alles. Darstellungsmäßig sind das einfach Kaffeehausbesucher, die in dem Cafe sitzen. Da passiert nicht viel aufregende Bewegung, sondern es geht vor allem darum, dass man diesen Text hört und dabei etwas für sich findet.

Wen willst du vor allem ansprechen?

Mein größter Wunsch ist, dass Menschen da sind, die von der Aufführung nichts wissen, sondern einfach kommen, sich das anschauen und zufällig da sind. Damit sie eine Theatererfahrung haben unabhängig von dem gängigen Staatstheater-/ Kammerspiele-Besuch.

Wie wirkt sich die veränderte Aufführungspraxis auf die Wahrnehmung des Zuschauers aus, was denkst du?

Menschen sprechen in diesem Stück über eine gewisse „Anne“, die nicht anwesend ist, die auf eine gewisse Art universell ist. Sie erzählen Dinge über „Anne“, die man chronologisch aber nicht einordnen kann oder zu einem kompletten Bild zusammenfügen kann. Für mich ist „Anne“ jemand, der alles in allen Extremen ausgelebt hat: Sie war extrem viel reisen, sie hat Pornofilme gedreht, sie hat Häuser in die Luft gesprengt, und sie hat als Aussteiger gelebt. Sie geht in alle Richtungen, so in das Extrem hinein, in das wir uns nicht hinein trauen. Einerseits möchte ich darüber sprechen, andererseits finde ich es auch schön, diese teilweise wirklich krassen gewalttätigen Dinge in diesen supersüßen Raum zu legen.

Es gibt bereits die Idee eines Theaters ohne Bühne. Was ist also speziell bei diesem Projekt neu?

Dass das Publikum keinen Zuschauerraum hat. Ich habe lange Zeit überlegt, was ich machen kann, das innovativ ist. Ich habe jetzt einfach angefangen, meinen Leidenschaften zu folgen. Ich mache das, wonach ich mich sehne. Ob das dann schon da war oder noch kommt, oder, ob das andere auch machen, ist dabei nicht wichtig.

Gibt es ein spezielles Zielpublikum?

Im Grunde möchte ich Menschen erreichen, die feststecken in ihrem Alltag, die ihre Träume und Ideale in die Tasche gesteckt haben. Die arbeiten gehen und so vor sich hinleben.

Es geht also nicht um Identifikation mit „Anne“, sondern eher darum, Anreize für sich zu finden, selbst etwas zu durchbrechen?

Es wird in dem Stück so viel gesagt, das schwer einzuordnen ist, dass ich glaube, dass niemand wirklich den ganzen Bogen versteht. Niemand weiß am Ende noch alles, was passiert ist. Jeder holt zwangsläufig das für sich raus, womit er sich identifizieren kann.

Ist das somit auch eine Kritik an dem individualistischen Lebensstil, der hier in Mitteleuropa so verbreitet ist: „Arbeiten für die Freizeit“?

Ein Stück weit schon. Aber was auch ein Teil dieses Stückes ist, ist, dass ein dazu alternatives Leben nicht funktioniert. So in die Extreme zu gehen wie „Anne“ funktioniert nicht. Es geht ja nicht ohne zu arbeiten. Es geht eher darum, sich zu fragen, wieviel Anpassung man braucht, und wieviel Individualismus man sich bewahren möchte…

Denkst du, man sollte also „in der Mitte“ leben? Ich denke da zum Beispiel an die Tugend der Mitte bei Aristoteles…?

Ich glaube, Mittelmaß gibt es nicht, weil man immer irgendwohin gezogen wird, egal, wie man sich entscheidet. Mitte oder richtig gibt es in diesem Fall gar nicht.

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